Hannover. Oft aus Mangel an Alternativen erkunden viele Menschen in der Pandemie ihre nähere Umgebung. Das Handy kann dabei helfen, Blumen, Bäume, Vögel oder Insekten kennenzulernen.

Kaum Urlaubsflüge, kein Kino oder Fitnessstudio: In den Pandemie-Monaten haben viele das Spazierengehen für sich entdeckt - sei es im nächstgelegenen Park, am Feldrand oder im Wald. Aber welcher Vogel zwitschert denn da gerade?

Was blüht am Wegrand und wie heißt noch mal der Baum mit den herzförmigen Blättern? Zahlreiche Apps ermöglichen inzwischen das Erkennen von Arten mit dem Smartphone - teilweise genügt dabei ein einziges Handy-Foto.

Zu den Anwendungen gehört zum Beispiel das vom Bundesumweltministerium geförderte Projekt "Flora Incognita", das Künstliche Intelligenz zur Pflanzenbestimmung nutzt - vergleichbar mit der automatisierten Gesichtserkennung.

Die kostenlose App Nabu-Vogelwelt wurde schon mehr als eine Million mal heruntergeladen. Bei ihr lassen sich über In-App-Käufe auch zusätzliche Inhalte erwerben - etwa für 3,99 Euro rund 1000 Gesänge und Rufe von 308 Arten. "Als neues Feature kann man sich Vögel in 3D quasi auf den Wohnzimmertisch projizieren", sagt Nabu-Sprecherin Silvia Teich. Die verschiedenen Apps seien eine Chance, verlorengegangenes Wissen über die Natur zurückzugewinnen. Die Vogelwelt-App nutzen Tausende Menschen zudem, um ihre Beobachtungen für die Zähl-Aktion "Stunde der Gartenvögel" zu übermitteln.

In der Community naturgucker.de werden Apps ebenfalls zur Erfassung und Meldung von Beobachtungen verwendet. Rolf Jantz aus Wathlingen ist jeden Tag im Landkreis Celle und darüber hinaus unterwegs. Früher hatte der 65-Jährige Zettel, Stift und Landkarte dabei, heute benötigt er nur das Handy, wenn er ein Biotop kartiert. Eine Kamera mit einem riesigen Objektiv hat er dennoch dabei, um auch Tiere in größerer Entfernung aufzunehmen. Die Arten bestimmt er dann zu Hause mit Hilfe von Fachbüchern und Experten - die gängigen Apps seien dazu noch zu ungenau, sagt der Banker im Ruhestand.

Jantz ist am liebsten im Moor oder an Gewässern unterwegs. Infolge des Klimawandels verändere sich das Verhalten der Zugvögel, erzählt er. Auch bei Insekten gebe es eine Verschiebung der Verbreitungsgrenze nach Norden. So entdeckte Jantz an einem niedersächsischen Teich eine Pokaljungfer, die wärmeliebende Libellenart ist eigentlich vor allem im Mittelmeerraum und Südwesteuropa zu Hause. "Wenn man selbst zu den Bestandskarten und zur Kenntnis über die Verbreitung beiträgt, ist das schon ein Erfolgserlebnis", sagt der 65-Jährige.

Die Community naturgucker.de zählt zurzeit über 96 000 Aktive. Sie sind über eine Internet-Plattform vernetzt. Ausgehend von der als Genossenschaft betriebenen Seite wurden bisher etwa 15 Apps entwickelt. Das Kernteam sei auch an der Entwicklung der neuen Nabu-Insektensommer-App beteiligt, sagt Gaby Schulemann-Maier, Sprecherin von naturgucker.de. "Das Interesse an Insekten ist enorm gestiegen. Die Leute fahren total auf Wildbienen ab." Die neue Nabu-App wird Erkennungshilfen und Porträts von mehr als 450 Arten enthalten und soll im Juni erscheinen.

Wer in der Corona-Zeit die Natur für sich entdeckt, muss allerdings eine Reihe von Regeln beachten. So dürfen zum Beispiel in Naturschutzgebieten die Wege nicht verlassen werden. Und: "Manche nutzen Apps mit Vogelstimmen exzessiv, ihnen ist dabei nicht bewusst, dass sie die Tiere damit massiv stören", sagt Schulemann-Maier. Vogelstimmen sollten nur leise direkt am Ohr abgespielt werden. Wenn die 48-Jährige selbst als Naturbeobachterin mit Kamera und Handy auf dem Gelände der Zeche Zollverein in Essen unterwegs ist, wird sie ständig angesprochen und gefragt, ob sie etwas erklären könne. "Die Menschen sagen dann immer, dass mehr für den Naturschutz getan werden muss."

Zum Schutz empfindlicher Tier- und Pflanzenarten kann im System von naturgucker.de der genaue Beobachtungsort auch verborgen werden, um etwa Störungen von brütenden Vögeln oder sogar Straftaten zu verhindern. Im Landkreis Holzminden waren im vergangenen Jahr bereits zum wiederholten Mal streng geschützte wildwachsende Orchideen ausgegraben und gestohlen worden. Der Diebstahl streng geschützter Pflanzen sei kein Kavaliersdelikt, sondern eine Straftat, die mit Freiheits- oder Geldstrafe geahndet werden könne, erklärte der Landkreis damals.

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