Berlin. Psychiater Achim Haug hat Menschen therapiert, die in ihrer eigenen Realität leben. Ein Gespräch über Wahnvorstellungen und die Folgen.

Sie entsprechen keiner Logik, sind entsprechend irrational - und doch für die Betroffenen die Realität, in der sie leben. Wahnvorstellungen können bizarr, fantastisch, aber auch hochgradig gefährlich werden. Denn wenn Menschen unter ihnen leiden, kann es schon mal in die lebensbedrohliche Richtung gehen - etwa wegen des Glaubens, sich oder andere vor irgendwem retten zu müssen. Im Zweifel dem Teufel.

Der Psychiater Professor Achim Haug hat Menschen behandelt, die durch Krankheiten wie Schizophrenie, Demenz, Depressionen oder Drogenkonsum in eine eigene Realität abgeglitten sind, die Stimmen hörten oder sich in Kontakt mit dem Teufel wähnten. Er kennt die Probleme der Betroffenen, die sich ihres Problems auch oft gar nicht bewusst sind - erzeugt der Wahn doch eine Welt, die in sich schlüssig ist.

Haug hat viele von ihnen therapiert, aber er hat auch viel von ihnen gelernt – über die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn und wozu das Gehirn fähig ist. In einem Buch erzählt er ihre Geschichten. Ein Gespräch über Wahn und Wirklichkeit.

Herr Haug, Sie erzählen in Ihrem Buch die Geschichte Ihrer Patientin Tamara Grünfeld, in deren Körper Trillionen Menschen lebten, oder von Hans Taubert, der zwischen drei Welten wandelte. Hatten Sie mal den Gedanken, dass Ihre Patienten die Wahrheit sprechen?

Achim Haug: Den Gedanken habe ich immer. Die Patienten bilden sich das nicht ein. Die Geschichten klingen nach Einbildung, nach Märchen. Aber für die Betroffenen sind sie eine Realität, die sie genauso real erleben, wie wir die unsere.

Was ist „unsere Realität“? Woher wissen wir, was die Wahrheit ist? Das Normale?

Haug: Das klingt nach einer hoch philosophischen Frage, ist aber oberflächlich betrachtet relativ einfach zu beantworten: Realität ist die Wirklichkeit, die wir – mit aller Toleranz – mit unserer Umgebung teilen. Aus dieser Antwort wird auch eine kulturelle Relativität deutlich. Das, was für uns Realität ist, mag in anderen Kulturen anders sein.

Beim Wahn geschieht etwas ganz Besonderes: Der Betroffene entfernt sich von dieser kulturell geteilten Auffassung der Wirklichkeit und entwickelt eine eigene, private Wirklichkeitsauffassung. Das ist eines der wesentlichen Kriterien des Wahns.

Was geschieht beim Wahn im Körper eines Menschen?

Haug: Was da genau vor sich geht, wüssten wir auch gerne. So weit ist die Wissenschaft noch nicht. Aber es gibt einen Haufen Einzelbefunde aus bildgebenden Verfahren, die eine Über- oder Unteraktivität in bestimmten Hirnregionen belegen.

Wir wissen, dass Botenstoffe im Gehirn durcheinandergekommen sind, dass das Dopamin zum Beispiel eine Störung hat. Auch von genetischen Faktoren, die bei einer Schizophrenie eine Rolle spielen, wissen wir. Aber wie das alles zusammenspielt, wissen wir nicht. Nach allem, was man herausgefunden hat, gibt es wohl nicht den einen Faktor, wie etwa ein Bakterium, der einen Wahn auslöst.

Professor Achim Haug.
Professor Achim Haug. © Achim Haug | Frank Brüderli

Kann jeder Mensch einen Wahn entwickeln?

Haug: Ein Kollege von mir sagte einmal, jeder Mensch sei wahnfähig. Aber wir haben auch von der Natur Schutzmechanismen bekommen, damit wir keinen Wahn entwickeln. Die Balance zwischen diesen Mechanismen und den Gefährdungsfaktoren ist entscheidend dafür, ob wir dieses Symptom entwickeln oder nicht.

Wie können diese Schutzmechanismen gestärkt werden?

Haug: Der gesunde Mensch hat viele Möglichkeiten, sich zu stärken: Achtsamkeitstraining, Leistungsorientierung – aber nicht zu stark, Stressbewältigungstechniken. Das sind allgemeine Formen von psychischer Kräftigung.

Und dann kann es einen trotzdem treffen. Wie passiert sowas?

Haug: Die Menschen rutschen langsam hinein. Zuerst gibt es eine Phase, in der seltsame Dinge geschehen, die sie sich nicht erklären können. Unsicherheit ist etwas sehr Unangenehmes – also finden sie Erklärungen. Dann kommt die wahnhafte Gewissheit, die Wochen oder Monate anhält und irgendwann wieder zu bröckeln beginnt. Es folgt eine Distanzierung vom Wahn – „ich wurde verfolgt, jetzt werde ich es nicht mehr“ – und schließlich eine Korrektur – „ich wurde nie verfolgt, es war eine Krankheit“. Meist ist man den Wahn dann auch für immer los.

Menschen mit Wahn sind ja ganz normale, intelligente Menschen. Kann man ihre Welt mit Logik knacken?

Haug: Das ist mir sehr wichtig: Es sind oft sehr kluge Menschen, die ihr Leben auch ganz normal leben können. Der Wahn zeigt sich oft erst, wenn man in den Austausch mit den Patienten über ihre Wirklichkeit geht. Da hilft Logik dann aber wenig.

Weil ein Kriterium des Wahns diese persönliche Wirklichkeit ist?

Haug: Genau. Streiten macht keinen Sinn. Ich könnte ja jetzt auch schlecht mit Ihnen darüber streiten, dass Sie jetzt gerade am Telefon mit einem Autor sprechen. Und genauso sicher sind sich diese Menschen, dass sie zum Beispiel eine elektronische Verbindung zum Teufel haben. Der Kranke weiß einfach, dass die Dinge so sind wie sie sind, ohne dass er sie sich erklären oder beweisen muss.

Sie schreiben, Tamara Grünfeld habe nicht einmal ihrem Hausarzt von ihrem Wahn erzählt. Wie tabuisiert ist das Thema?

Haug: Sehr. Wenn Sie jetzt nach unserem Interview Ihrem Chef erzählen: Mir ist klar geworden, dass ich gerade den Teufel am Telefon hatte – dann schauen Sie mal, was Ihr Chef sagt. Er wird Sie seltsam anschauen. Wahnkranke ecken dauernd an, das ist die direkte Art des Stigmas.

Dann gibt es noch ein nachhaltiges Stigma: Wer mal in seiner Biografie eine schizophrene oder wahnhafte Erkrankung hatte, dem trauen die Menschen nicht. Ist er raus aus dem Wahn? Bezieht er mich vielleicht in den Wahn mit ein?

Würde es helfen, wenn die Gesellschaft den Wahn als eine Facette von Menschen ganz selbstverständlich einbezieht?

Haug: Das würde dem Wahnpatienten nicht helfen. Er ist krank und muss behandelt werden. Auf einer anderen Ebene sprechen Sie natürlich die Frage an, wie unnormal jemand sein darf, dass er in der Gesellschaft noch toleriert wird.

Was würden Sie antworten?

Haug: Da habe ich ein sehr großes Herz. Es gibt ja auch die Beschreibung von abstrusem Glauben, den wir als Gesunde haben. Manche Japaner verbergen ihre Daumen, wenn sie einem Leichenwagen begegnen; sie glauben, dass sich sonst die Geister des Toten unter dem Daumennagel verstecken. Oder warum haben viele Hotels in Deutschland keinen 13. Stock? Warum gibt es bei der Bahn keinen Wagen Nummer 13? Das sind irrationale Dinge, von denen die Welt durchwirkt ist.

Was haben Sie von Ihren Patienten gelernt?

Haug: Ganz viel. Diese Fantasien, die entwickelt werden, sind faszinierend. Wozu das Hirn fähig ist, wie es auch bei Gesunden Wirklichkeit erzeugt und Dinge real erscheinen lässt, die nicht real sind. Diese Relativität „des Richtigen“ einerseits und der Wert des gesunden Menschenverstands andererseits – das sind Facetten, die ich gelernt habe.