Tel Aviv. In der Negev-Wüste gelingt das Zusammenspiel von Naturschutz, Erschließung und Tourismus. Für die Anwohner ein täglicher Kampf.

Als Gadi und Leah Nahimov vom Stadtleben genug hatten, zogen sie mit ihren sechs Kindern fort aus Tel Aviv. Das war im Jahr 2003. Die Familie siedelte aber nicht einfach nur „aufs Land“ um, sondern in eine Region, die stellenweise aussieht wie eine Mondlandschaft.

Ramat Hanegev, eine Ansiedlung von ein paar Häusern und Trailern, liegt mitten in der Wüste Negev. Ein kleines Tal, umgeben von völlig kahlen Bergen – hier bauten die Nahimovs ihre Naot Farm auf und begannen ein neues Leben.

Gästezimmer mit Blick ins Nirgendwo

Stolz zeigt Leah, eine große, breitschult­rige Frau mit langen weißgrauen Haaren und wettergegerbtem Gesicht, ihre Ziegenställe. Eingefasst mit Holzgattern und durch ein breites Dach gegen die unerbittliche Sonne geschützt, dehnt sich die Anlage in der Größe eines halben Fußballfeldes aus.

Die mehr als 200 Tiere dösen im Schatten, manche schlafen in kleinen Erdmulden. Einige winzige Zicklein kauern japsend in der Nähe ihrer Mütter. Das Thermometer zeigt mehr als 30 Grad.

Gadi, der mit seinem langen weißen Bart und der braunen Arbeitskutte wie eine Gestalt aus der Bibel wirkt, zeigt die Fremdenzimmer mit Blick ins Nirgendwo. 15 Gäste können hier untergebracht werden, es gibt sogar einen Pool. Am Rande der Straße betreiben die Nahimovs einen kleinen Laden in dem sie diverse Ziegenprodukte anbieten – vor allem Käse.

Um hier leben zu können, trotzen die Israelis der Negev ihr Land ab

Die „freundliche Wüste“ nennen sie die Negev, die mit 12.000 Quadratkilometern rund 60 Prozent des Staates Israel bedeckt. Zwar wirkt sie vor allem im Norden abweisend, doch die Temperaturen sind beispielsweise im Frühjahr auch wegen der geringen Luftfeuchtigkeit so erträglich, dass geführte Wanderungen und sogar die gesamte Durchquerung per Trekking-Fahrrad durchaus zu bewältigen sind.

Steinblöcke in Mitzpe Ramon.
Steinblöcke in Mitzpe Ramon. © AFP/Getty Images | JACK GUEZ

Um die besondere Bedeutung der Negev zu verstehen und die Faszination zu erspüren, die von ihr ausgeht, muss man mit denjenigen sprechen, die ihr Land abgetrotzt haben, um hier zu leben. Zwar subventioniert die israelische Regierung schon seit den 1960er-Jahren die Ansiedelungen, aber es ist nicht das Geld alleine, das die Menschen hierher zieht.

Teile der Wüste sind militärisches Gebiet

Die einzige befestigte Verbindungsstraße ist die Road 40, die zum Kibbuz Sde Boker führt und dann die Kleinstadt Mitzpe Ramon erreicht. Ein paar Kilometer weiter, direkt beim Kibbuz Tlalim, betreibt Alex sein Road Café mit angeschlossener Farm, das genauso in ­Nevada stehen könnte.

Das Haus ist in Leichtbauweise errichtet, die gescheuerten Holz­tische, Stühle und die Bar stehen direkt auf dem gestampften Wüstenboden – Segeltuchplanen spenden Schatten, Decken am Eingang halten Staub und Sand fern.

Bei Bier und koscheren Burgern schwärmt Alex von seinem Konzept – ein Riesenerfolg sei der Pub bereits, berichtet er stolz. Zu den wichtigsten Gästen zählen neben Touristen vor allem Soldaten, denn Teile der Wüste sind seit Jahrzehnten militärisches Gebiet. Immer freitags gibt es Livemusik.

So still wie auf einem anderen Planeten

Wie eine Oase liegt die Carmey Avdat Farm nahe Sde Boker in einem abgeschie­denen Tal. Wer am großzügigen Besucherparkplatz aussteigt, hört bis auf das leise Hecheln der Hunde keine Geräusche – es ist so still wie auf einem anderen Planeten.

Wohn- und Wirtschaftsgebäude ducken sich in einer Senke neben Schatten spendenden Bäumen, weiße Bungalows leuchten verstreut in den bepflanzten Hügeln. Besonders eindrucksvoll sind die unzähligen Reihen dunkelgrüner Weinstöcke, die sich wie eine riesige Schlange um das Anwesen winden.

Anfangs war alles verödet, es gab keinerlei Vegetation

Direkt dahinter sieht man übergangslos nur noch Sand und Geröll – der Kontrast könnte nicht größer sein. Hannah und Eyal Izrael machten das ­Gelände nahe Sde Boker vor 20 Jahren urbar, nachdem sie mit ihren drei Kindern sieben Jahre in Mitzpe Ramon gelebt und sich dann für das Leben im Nirgendwo entschieden hatten. Eyal spricht über die Vision von einer modernen Farm, die erkennbar auf einer jahrhundertealten Tradition fußen sollte.

Der Natur Land abringen – das taten die Israelis in der Tat. Alles war verödet, es gab keinerlei Vegetation. Nur die Reste einer ­antiken Terrassenanlage bezeugten, dass hier schon einmal Menschen ihr Glück versucht hatten. Die sympathische Familie sah hier die Erfüllung ihrer Vision.

Jahrelang lebten die fünf in einem Trailer ohne Elektrizität, verwandelten die Einöde mithilfe unterirdischer Wasserleitungen Stück für Stück in ein Paradies. Wer heute aus einem der gepflegten Bungalows in die Berge blickt oder im Hofladen den selbst gekelterten Wein probiert, fühlt sich eher wie auf Mallorca als in einer Oase.

Sogar ein Kulturzentrum ist in Planung

Doch die Negev hat noch mehr zu bieten. „The desert takes you, it makes you powerful“, sagt Dav – „Die Wüste nimmt dich auf, sie gibt dir Kraft.“ In Mitzpe Ramon hat er eine kleine Halle gemietet und versucht seit ein paar Monaten, dort ein Kulturzentrum aufzubauen. Eine Bühne steht bereit, langfristig könnte ein Theatercenter daraus werden. Dav spricht mit großer Eindringlichkeit.

Ernte der Weintrauben: Die Bewohner trotzen der Wüste Land ab.
Ernte der Weintrauben: Die Bewohner trotzen der Wüste Land ab. © Getty Images | David Silverman

Er und seine jungen Mitstreiter glauben an die Kraft von Kunst und Handwerk, berichtet er. Ein kleines Künstlerquartier ist hier schon entstanden: Töpfereien, Schmuckläden, Seifenproduktion, selbst gebastelte Deko, Trödel.

Von seinem früheren Wohnort Jerusalem spricht Dav nur noch wie von einer enttäuschten Liebe. Aggressivität bis hin zu latenter Gewalt, Lärm, Hektik – all das habe er nicht mehr ausgehalten. Aus der Negev, da ist er ­sicher, gibt es für ihn keine Rückkehr mehr.

Wer sich für das Leben in der Negev entschieden hat, lebt in unmittelbarer Nachbarschaft zu unglaublich schönen Landschaften. Im Grunde liegt hier das Geheimnis ihrer besonderen Ausstrahlung: im Wechselspiel aus atemberaubenden Naturerlebnissen und historisch bedeutenden Kulturstädten.

Man könnte sagen: Die Negev präsentiert Menschheitsgeschichte an allen Ecken und Enden – und das in einem besonders schönen Rahmen.

In Sde Boker steht das Wohn- und Sterbehaus Ben-Gurions

Da ist zum Beispiel der En-Awdat-Nationalpark, in dem sich kleine Wasserläufe durch Sandsteinfelsen winden und natürliche, glasklare Teiche bilden. Ein unbedingtes Muss für Besucher: der Ramon Krater (Machtesch Ramon) – größter Erosionskrater in der Wüste, der sich an seiner breitesten Stelle rund 40 Kilometer ausdehnt.

Wer an einem seiner Ränder steht und das erhabene Schweigen der fast endlosen, archaisch erscheinenden Landschaft auf sich wirken lässt, kann sie vielleicht spüren, die Kraft, von der Dav sprach. Das gut gemachte Gästezentrum in Mitzpe Ramon verweist auf die vielen Schätze, die es dort unten zu entdecken gibt, darunter versteinerte Baumstämme und Korallenriffe.

Die Menschen, die sich endgültig mit der ­Negev verbinden, wie man hier sagt, müssen sich nach wie vor einem täglichen Lebenskampf stellen. Es ist ein Kampf gegen Versandung, Wassermangel, Räuber – und gegen die unendliche Hitze.

Die Negev nutzbar zu machen, ist viel mehr als eine Flucht stadtmüder Aussteiger oder der Versuch, mit originellen Projekten schnell viel Geld zu machen. Das Leben in und mit der Wüste bestimmt seit Jahrhunderten einen Teil der Geschichte und damit auch der Identität des Staates Israel.

Seit Jahrhunderten suchen die Menschen ihr Glück in Negev

Nirgendwo wird das so deutlich wie in Sde Boker („Feld der Hirten“). Der Kibbuz war 1952 von ehemaligen Soldaten gegründet worden, die zunächst in einfachen Zelten wohnten und Landwirtschaft und Viehzucht betrieben. David Ben-Gurion, erster Ministerpräsident Israels, war so von dem Projekt überzeugt, dass er 1953 seine öffentlichen Ämter niederlegte, nach Sde Boker umzog und dort für ein paar Jahre ein einfaches, arbeitsreiches Landleben führte.

Ben-Gurions Wohn- und Sterbehaus, ein schlichter, mit hellgrün gestrichenem Holz verkleideter Bungalow, bildet heute ein kleines Museum inklusive Arbeitszimmer und Bibliothek. Alles ist so unverändert spartanisch gehalten, so frei von jedem Luxus, dass dieser Ort eine ganz eigene Kraft und Würde ausstrahlt.

Südlich davon liegt am Abhang des Nahal Tsin der Ort Midreshet Ben-Gurion (auch Midreshet Sde Boker). Dort, im Zentrum eines kleinen Nationalparks, befinden sich die Gräber des israelischen Politikers und seiner Frau Paula. Die Wahl dieser Grabstätte wirkt wie ein letztes Bekenntnis zur Negev – und zum zionistischen Traum, die Wüste zum Blühen zu bringen.

Immer wieder wird versucht, der Negev etwas abzutrotzen. Viehzucht, Weinbau, Landwirtschaft – und natürlich Tourismus. Seit Jahrhunderten suchen die Menschen ihr Glück in der Negev. Viele geben auf, doch ­immer wieder rücken neue Siedler nach, um aus Stein und Sand Häuser und Gärten zu zaubern. Unter Wissenschaftlern gilt sie als der am längsten – nämlich seit 1,8 Millionen Jahren – unverändert sichtbare Teil der gesamten Erdoberfläche. Auf diese Weise ändert sich das Leben in der Negev täglich – und bleibt auf faszinierende Weise auch immer gleich.

• Tipps & Informationen

Zum Beispiel Germania, Easyjet und El Al bieten Nonstop-Flüge von Berlin nach Tel Aviv an. Ab Hamburg fliegt Germania. Von dort geht es weiter mit einem Mietwagen.

Beispiele für Übernachtungen sind die Carmey Avdat Farm, Sde Boker, buchbar über www.expedia.de/Sde-Boker. Eine Nacht kostet mit Frühstück 165 Euro. Empfehlenswert ist auch die Naot Farm, Mashabbe Sade / Ramat Hanegev. Übernachtung: 159 Euro, z. B. über Tripadvisor.

Weitere Auskunft auf www.goisrael.de

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung des Staatlichen Israelischen Verkehrsbüros.)