Berlin. Wer unliebsame Tätigkeiten ständig umgeht, riskiert die eigene Gesundheit. Wann Verschieberitis krankhaft ist und was dagegen hilft.

Der wichtige Anruf beim Vermieter – hat Zeit. Das Lernen für die Klausur – kann ich morgen machen. Oder übermorgen. Oder überübermorgen. Und das klärende Gespräch mit den Eltern erledige ich irgendwann.

Das Aufschieben von meist unliebsamen Tätigkeiten kann mittel- bis langfristig zu schweren Problemen führen. Experten sprechen dann von Prokrastination, abgeleitet vom lateinischen Verb für „vertagen“.

Dies ist ein erlerntes Verhalten, das mit Stress, Angst, Einsamkeit, Schlafstörungen oder Erschöpfung einhergehen kann. Schätzungen zufolge sind 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung gefährdet.

Wie erkenne ich Prokrastination?

„Wann genau das Verschieben als krankheitswertig bezeichnet werden kann, ist nicht leicht zu beantworten“, sagt Prof. Manfred Beutel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. „Prokrastination ist keine psychische Diagnose, harte Kriterien gibt es dafür nicht.“

Entscheidend sei bei der Beantwortung dieser Frage die Gefühlswelt. „Es gibt Menschen, die einfach nur faul sind oder Dinge aus strategischem Kalkül verschieben, etwa weil anderes aktuell wichtiger ist. Diese Menschen fühlen sich aber wohl dabei“, sagt Beutel.

Wer prokrastiniere, entwickle ein schlechtes Gewissen, Scham und Stress. „Es gibt natürlich auch Zwischenstufen. Wer unsicher ist, sollte das Gespräch mit anderen suchen, die Meinung von Freunden oder WG-Mitbewohnern einholen“, rät Beutel.

Was sind die Risikofaktoren?

Wissenschaftlich untersucht hat Beutel die Risikofaktoren im Rahmen des Forschungsschwerpunkts Medienkonvergenz der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Die Studie mit mehr als 2500 Personen im Alter von 14 bis 95 Jahren wurde 2016 im Fachjournal „Plos One“ veröffentlicht.

„Die repräsentative Erhebung zeigte, dass Menschen, die Tätigkeiten häufig aufschieben, seltener in Partnerschaften lebten, häufiger arbeitslos waren und über ein geringeres Einkommen verfügten“, erklärt Beutel. Betroffen waren vor allem Männer unter 30. Schüler und Studenten prokrastinierten mehr als Auszubildende.

„Prokrastination ist oft auch mit klinischen Störungen verbunden, mit Depressionen oder einer sozialen Angststörung, da muss man sehr genau hingucken“, sagt Dr. Marcus Eckert, Psychologe, Mitbegründer des Instituts Lerngesundheit und Entwickler eines Online-Trainings zur Überwindung von Prokrastination.

Noch unklar ist der Einfluss moderner Medien. „Da ist es wie bei der Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei“, sagt Beutel. Nachgewiesen sei aber, dass Menschen, die zur Prokrastination neigten, auch zu einer extremen Nutzung moderner Medien tendierten.

Wie lässt sich das ewige Verschieben erklären?

„Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten, das durch das Vermeiden unangenehmer Tätigkeiten verstärkt wird“, sagt Manfred Beutel. Warum bestimmte Tätigkeiten negative Gefühle auslösten, würde von den Betroffenen aber zu wenig hinterfragt. „Mitunter ist mit Prokrastination auch ein extremer Perfektionismus verbunden“, sagt Eckert.

Mit dem Anspruch, alles 180-prozentig machen zu wollen, steige die Angst, den eigenen Ansprüchen nicht zu genügen. Weil unangenehme Stimmungen vermieden werden sollen, werden die Tätigkeiten umschifft.

„Manchmal gibt es bei Betroffenen aber auch einfach Defizite in Grundfertigkeiten wie Gewissenhaftigkeit, Struktur und Hartnäckigkeit“, sagt Beutel. „Statt etwa zu lernen, werden Tätigkeiten bevorzugt, die das Belohnungssystem im Gehirn verstärkt aktivieren.“

Wie kann ich der Neigung zur Prokrastination begegnen?

Das hängt von der Schwere ab. „Eine sorgfältige Beratung ist der erste Schritt“, sagt Beutel. Marcus Eckert rät zur Bewusstmachung. „Warum schiebe ich auf, wovor habe ich Angst, was kann mir im schlimmsten Fall passieren? Das macht die Sache nicht immer angenehmer, man kann sie aber besser aushalten.“

Zudem sollten positive Gefühle betont und Fortschritte belohnt werden. Eckert rät zu realistischen Zielen, zu kürzeren Deadlines, zur Handlungssteuerung. „Ich kann mir zum Beispiel vornehmen, Unangenehmes morgens zu tun. Erlernte Verhaltensweisen kann man auch umlernen“, so Eckert.

Und wenn ich so nicht weiterkomme?

Dann sollte eine ambulante, bei extremer Ausprägung auch eine stationäre Therapie in einer psychosomatischen Klinik erfolgen. Hier werden Methoden der Verhaltenstherapie mit denen der Tiefenpsychologie verbunden. „Der Teufelskreis aus Aufschieben, Vermeiden, Versagensgefühlen, Erschöpfung und Depression wird sorgfältig aufgearbeitet“, sagt Beutel.