Dubai. 6600 Tage lagen zwischen dem ersten und dem 100. Turniersieg von Roger Federer. “Nichts daran war selbstverständlich“, sagte Federer.

In der Players Lounge am Jumeirah Creekside Hotel wurden auch Stunden nach dem „Moment für die Ewigkeit“ (Gulf News) noch Schampus, Wein und arabische Köstlichkeiten gereicht. Roger Federer und seine vielköpfige Entourage waren in bester Feierlaune nach dem sagenhaften 100. Karrieretitel, es gab in dieser großen Nacht des großen Sieges noch keine Gedanken ans Morgen, an kommende Turniere und Prüfungen. „Es ist ein Traum, der wahr geworden ist für mich“, sagte Federer, bevor er sich in sein Luxus-Apartment an der Dubai Marina aufmachte, „ich bin ja ein Mensch, der solche runden Zahlen liebt.“

Federer hatte noch vor den ersten Ballwechseln bei den stark besetzten Duty Free Championships leicht genervt auf die dauernden Spekulationen um das Erreichen der Dreistelligkeit reagiert, auf „das Gerede, wann ich die 100 nun endlich schaffe.“ Doch dann erledigte er das Problemchen auf seine konsequente Art und Weise, quasi im Handstreich am Golf. Zunächst ging Federer die Meilenstein-Mission eher zittrig vom Schläger, später aber war er wieder der vertraute Tennis-Souverän, ganz der elegante und zugleich zupackende Maestro. Fünf Siege binnen sechs Tagen landete er schließlich in der Zeltdacharena, den letzten im Endspiel gegen einen der Poster-Boys der nächsten Generation, Stefanos Tsitsipas aus Griechenland - dann war das vorerst letzte Meisterwerk geschafft, der 100. Titel seit dem ersten Titel am 4. Februar 2001 in Mailand (gegen den Franzosen Julien Boutter).

Roger Federer blieb sich als Mensch und Charakter stets treu

6600 Tage lagen dazwischen, eine kleine Ewigkeit, aber Federer blieb sich als Mensch und Charakter stets treu auf diesem langen Marsch durch die Tennis-Institutionen. Und veränderte sich nur pausenlos in der Vorbildrolle des lebenslangen Lerners und ewigen Reformers. „An dem Tag, an du nicht mehr besser werden willst, bist du nicht mehr vorne dabei“, sagte er an diesem Abend auch in Dubai. Ein Merksatz, der wie so viele Ein- und Ansichten des Schweizer Ästheten von zeitloser Gültigkeit ist.

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Federer hat seit den frühen Tagen seiner Karriere nie aufgehört, zu siegen und immer wieder zu siegen. Für ganze Generationen, für ganze Tennis-Klassen war er der freundliche Spielverderber, das Stoppzeichen auf zwei Beinen. „Ich weiß, dass ich vielen in ihrer Karriere im Weg stand“, sagte Federer, „aber mein Respekt ihnen gegenüber ist, dass ich nie Geschenke verteilte. Nicht verteilen durfte.“ Im Schnitt holte sich Federer über gut 21 Laufbahn-Jahre alle zweieinhalb Monate einen Titel. Er rastete nie, rostete nie ein. Jeder fünfte seiner Pokaltriumphe, also 20, spielte sich auf den ganz großen Bühnen ab, bei den Grand Slams, die den Stellenwert und das Lebenswerk eines Spielers am ehesten definieren. Doch in der Stunde seines 100. Titels legte er auch ein flammendes Plädoyer für den Basisbetrieb seines Handwerks ein, für die vielen kleineren und mittelgroßen Turniere. „Hier werden alle Spieler erst erwachsen, hier machen sie die entscheidenden Schritte, hier ist ihre Karriere-Plattform“, sagte Federer, „ich ärgerte mich immer, wenn ich nach einem Turniersieg gefragt wurde: Was bedeutet das für ihren nächsten Grand Slam-Start?“ Federer gab sich die Antwort dann noch einmal demonstrativ selbst: „Jeder Schauplatz, jeder Wettbewerb steht für sich. Und verdient größten Respekt.“

Federers weltweite Gastspiele haben sich inzwischen zu Hochämtern verselbstständigt, in denen dem 37-jährigen Meisterspieler gehuldigt wird wie einer nicht mehr ganz irdischen Erscheinung. Der unermüdliche Schweizer zieht die Massen an, verzückt die Massen, sorgt in Sieg und Niederlage für extreme emotionale Ausschläge auf den Rängen. Der 100. Karrieretitel im Über-Morgenland am Golf wird den Kult um den vierfachen Familienvater noch weiter anheizen. Ihm selbst ist das am wenigsten geheuer.

Er genieße natürlich die „Popularität und die Zuneigung der Menschen“, sagte Federer in Dubai, „aber ich muss aufpassen, dass ich in all dem Trubel meine Konzentration aufs Tennis behalte.“ Und tatsächlich will Federer, der berühmteste Einzelsportler dieser Zeit, im Grunde seines Herzens einfach nur Tennis spielen, auf dem Centre Court den Thrill, das Duell genießen. Und ansonsten Zeit mit seiner Familie verbringen, mit seiner Frau Mirka und seinen Zwillingstöchtern und Zwillingssöhnen. „Der Punkt ist der: Wenn mich die Familie nicht so rückhaltlos unterstützen würde, dann wäre meine Karriere ja schon längst beendet.“

Federer will den Rekorden nicht mehr verbissen hinterherjagen

Einst hatte Federer geglaubt, spätestens um die Dreißig würde Schluss sein für ihn. So wie für viele seiner eigenen Idole, ob nun Björn Borg oder auch Boris Becker. Aber dann erlebte Federer, wie plötzlich Andre Agassi jenseits der Dreißiger-Marke eine Renaissance erlebte, stählern fit, drahtiger als die Jüngeren und Jüngsten. „Es war eine große Inspiration, das zu sehen. Und selbst hart und leidenschaftlich dran zu bleiben.“ So siegte er dann weiter, auch als Ü30-Mann, als Ü35-Mann, auch als Comeback-Phänomen Anfang 2017. „Dass ich immer wieder diese Wege gefunden habe, verdanke ich auch dem großartigen Team um mich herum. Und doch: Es war jedes Mal auch ein großes Staunen dabei, wenn es zuletzt einen neuen Erfolg gab“, sagte Federer, „das alles ist nur eins nicht: Selbstverständlich.“

100 Titel – und kein bisschen müde? Für den Augenblick stimmte es nicht. In Dubai fiel beim Gewinner merklich Spannung ab, er war erschöpft, abgekämpft, die Batterie war erst mal im roten Bereich. Aber für den Rest des Jahres, für den Rest der Zeit als Berufsspieler gab und gibt sich Federer weiter „gute Chancen“ hier und da. Den Rekorden verbissen hinterherjagen will er aber nicht mehr, aus dem Alter, aus dieser Gefühlslage ist er raus. „Ich muss nicht alle Bestmarken brechen, auch nicht die 109 Titel von Jimmy Connors“, sagte Federer