London. Die Saison von Alexander Zverev ist noch nicht vorbei! Der Hamburger fertigt den “Maestro“ Roger Federer in zwei Sätzen ab.

Es war das größte Spiel seiner jungen Karriere. Und es endete für Alexander Zverev mit dem größten Sieg seines Tennis-Lebens - gegen keinen anderen als den Besten aller Zeiten, gegen Roger Federer.

Als Zverev am Samstagabend einen Rückhand-Volley meisterlich und unerreichbar für Federer ins Feld platzierte, krönte er eine imponierende Centre Court-Show mit dem ersten Einzug eines deutschen Spielers ins WM-Finale seit 1996. Der Mann, der dies zuletzt vor 22 Jahren schaffte, hieß Boris Becker, und er selbst, der damalige Champion von Hannover, saß nun in der Londoner O2-Arena als Zuschauer bei Zverevs brillantem 7:5, 7:6 (7:5)-Erfolg über den Schweizer Maestro.

Zverev: "Will jetzt auch den Titel holen"

„Ich bin wahnsinnig stolz, was ich geschafft habe“, sagte Zverev später erleichtert, „jetzt will ich natürlich auch den Titel holen.“ Zverevs Gegner wurde erst am späten Abend, nach Redaktionsschluß dieser Ausgabe, im Match zwischen dem Weltranglisten-Ersten Novak Djokovic und dem Südafrikaner Kevin Anderson ermittelt.

Ohne wirkliches Zutun von Zverev endete diese Partie allerdings mit denkwürdig schiefen Tönen – ein Eklat, ausgelöst durch einige eiserne Federer-Fans, die Zverev beim obligatorischen Interview nach der Partie gellend auspfiffen. Passiert war dies: Im Tiebreak des zweiten Satzes, beim Stand von 3:4 aus Sicht des Deutschen, unterbrach Zverev einen Ballwechsel, weil eines der Ballkinder eine Filzkugel aus den Händen verlor. Zverev tat, was regelkonform war: Er stoppte das Geschehen, wies den Schiedsrichter auf das Mißgeschick des Jungen hin. Der Ballwechsel wurde wiederholt, Zverev schlug ein Ass zum 4:4 – und erntete erste Mißfallenskundgebungen des überwiegend auf Federers Seite stehenden Publikums.

Pfiffe gegen Zverev

Auch bis zum Ende des Tiebreak setzten sich die Pfiffe gegen Zverev fort, mit dem Höhepunkt eines regelrechten Pfeifkonzerts im Gespräch mit Moderatorin Annabel Croft. „Warum pfeifen Sie. Alexander hat nur die Regeln befolgt und verdient Respekt“, sagte Croft, eine ehemalige Profispielerin, als die Stimmung noch feindseliger wurde. Und Zverev? Er meisterte die Situation mit genau der selben Klasse, die ihn vorher auch schon auf dem Court ausgezeichnet hatte. Mehrfach entschuldigte sich der 21-jährige Hamburger, sagte auch, er habe „niemanden hier verärgern“ wollen: „Ich sagte auch zu Roger am Netz, dass es mir leid tut. Ich fühle mich jetzt allerdings etwas verloren.“ Es war ein fast so trauriges Ende wie unlängst beim US Open-Finale zwischen der jungen Grand Slam-Königin Naomi Osaka und der Amerikanerin Serena Williams.

Zverev hatte in keinster Weise verdient, was ihm da nach dem wertvollsten Sieg seiner bisherigen Laufbahn widerfuhr, auf der großen WM-Bühne von London. Die Reifeprüfung gegen Federer in diesem Halbfinale bestand Zverev mit Bravour, so stark, selbstbewußt und in sich ruhend hatte er soweit noch nie bei einem Spiel mit vergleichbarer Bedeutung aufgetrumpft. Nicht Federer, sondern Zverev war der Mann, der Takt und Rhythmus der Partie bestimmte, mit druckvollem Angriffstennis, erstklassigen Aufschlägen und gezielten Netzattacken. Zverev war nicht der Getriebene, sondern die treibende Kraft, und in diesem Rausch vergaß er im 76. Saisonmatch auch jegliche Müdigkeit, war auf flinken Beinen unterwegs. „Ich wollte die Sache in die eigene Hand nehmen“, sagte er später, „und ich hatte auch die Nerven, um in den entscheidenden Momenten noch mal zulegen zu können.“

Federer muss auf 100. Titel warten

Tatsächlich war er auch der Mann für die Big Points. Schon im ersten Satz, als er bei einer 6:5-Führung kaltblütig eine jähe Schwächephase Federers ausnutzte und mit dem Break zum 7:5 auch den ersten Akt für sich entschied. Federer nahm Zverev dann im zweiten Durchgang den Aufschlag zum 2:1 weg, doch der Deutsche schüttelte das Mißgeschick problemlos ab, punktete sofort mit einem Rebreak zum 2:2. Und schließlich war er dann auch hellwach im Tiebreak, ging mit 6:4 in Führung und war eisern konzentriert, als er beim zweiten Matchball zum 7:5 den Rückhandvolley versenkte. Federers Traum vom 100. Turniersieg war vertagt, für ihn haben nun die Ferien begonnen. Zverevs großer Titeltraum geht dagegen weiter, es könnte am Sonntag zum zweiten großen Tennis-Moment dieses Jahres in London kommen – nach Angelique Kerbers erfolgreicher Wimbledon-Mission. Wintermärchen nach Sommermärchen? Es scheint nicht unmöglich.