Vilnius. Die litauische Hauptstadt Vilnius gilt als die entspannteste unter Europas Metropolen. Dazu verhelfen unter anderem Engelskulpturen.

Venedig und Barcelona sind in den Ferienzeiten bereits überlaufen, das könnte nun vielleicht auch mit Vilnius passieren. Denn die Reiseexperten des australischen Verlages Lonely Planet setzten Litauens Hauptstadt auf ihre Liste der Orte, die man im Jahr 2018 unbedingt besuchen müsse, weil sie eine fabelhafte Alternative zu allzu populären Touristenzielen sei.

Statt Verona nun also Vilnius. Die Stadt ist vor allem für die Barockarchitektur ihrer charmanten Altstadt bekannt und wird nicht zuletzt dafür gepriesen, dass sie weit genug von der Küste entfernt liegt, um von Kreuzfahrtreisenden gekapert zu werden.

Was geschieht, wenn man in den Kreis der Top-Destinationen aufgestiegen ist, demons­trieren Vilnius’ baltische Schwestern – das ­lettische Riga und Estlands Hauptstadt Tallinn. Deren Innenstädte werden, so kann man den Eindruck erhalten, in der Hochsaison zu nahezu einwohnerfreien Zonen, weil Myriaden von Besucher auf sie einfallen.

Nach der Ernennung zum Unesco-Welterbe spielt zwar auch Vilnius längst nicht mehr auf der B-Seite des touristischen Interesses, ist aber noch weit entfernt davon, sich zu einem bloßen Produkt zu verwandeln.

Wechselvolle Geschichte konnte Architektur nichts anhaben

Die Stadt hat ihr Gesicht nicht verloren. Zur ­morgendlichen Rushhour rumpeln klapprige Busse über Kopfsteinpflaster, in der Halle des Hales-Turgaviete-Markts räumen Händler ihre Waren in die Auslagen: zappelnde Karpfen, randvoll mit Fischrogen gefüllte Eimer, eingelegte Gurken und gegorene Milchprodukte.

Draußen vor der Halle bieten Haus­frauen in geblümten Kitteln Walderdbeeren und Pilze für ein paar Cents feil, Tomaten aus dem eigenen Garten, gebrauchte Blusen und Maiglöckchen.

So wenig wie dem Alltagsleben konnte die wechselvolle Geschichte der Stadt ihrer Architektur etwas anhaben. Schmale Gassen winden sich an stuckverzierten Gründerzeitbauten entlang, an Backsteingotik und Barock, Renaissance und Klassizismus – ein Spaziergang durch europäische Architektur­geschichte, nur vom kantig-kommunistischen Baustil ist kaum etwas übrig geblieben.

80 Prozent gehören der katholischen Kirche an

Vilnius weiß sich seiner Haut eben zu wehren. Übung hatte die Stadt ja ausreichend darin. Jahrhunderte der politischen und kulturellen Fremdbestimmung durch Polen, Deutsche und Russen haben den Widerstandsgeist der Litauer gestärkt, und ihr Glaube hat ein Übriges dazu getan.

Zwar sind sie immer noch stolz darauf, das letzte heidnische Volk Eu­ropas gewesen zu sein, das erst im 14. Jahrhundert christianisiert wurde, gehören aber heute mit rund 80 Prozent der katholischen Kirche an, und das mit einer solchen Inbrunst, wie man sie sonst nur aus Polen kennt. Kein Wunder also, dass die ziegelrote Dachlandschaft von Vilnius’ Altstadt einem Nadelkissen gleich gespickt ist mit Glockentürmen und Kirchturmspitzen von gut 50 Gotteshäusern.

Mithilfe von Engelskulpturen wurde Vandalismus gestoppt

Eine Engelskulptur auf einem Gebäude in Vilnius.
Eine Engelskulptur auf einem Gebäude in Vilnius. © Getty Images/AWL Images RM | Christian Kober

Um göttlichen Beistand können die Einwohner von Vilnius allerdings nicht bloß in ihren vielen Kirchen bitten, die himmlischen Boten sind auch mitten unter ihnen. Überall in der Stadt sind sie zu finden, die geflügelten Kerlchen, die im Jahr 2004 zum ersten Mal in Vilnius ­landeten.

Damals suchte die Stadt nach einer Idee, dem wachsenden Vandalismus Einhalt zu gebieten. Der Bildhauer Vaidas Ramoška setzte seine lächelnden Engelskulpturen der Zerstörungswut entgegen, und tatsächlich wurden weit weniger Telefonzellen, Reklame­wände und Bushaltestellen beschädigt als zuvor.

Als Vilnius im Jahr 2009 Kulturhauptstadt Europas war, flogen einige der Engel als besondere Botschafter ihrer Stadt sogar ins ­Ausland, um für die Liebenswürdigkeit ihrer Stadt zu werben. Inzwischen haben sich mehr als 70 Schutzengel unter die Leute gemischt. Mal mit Megafon, mal mit Rollschuhen, aber immer mit einem fröhlichen Lächeln sitzen sie auf Bänken, Balkonen, Fenstersimsen und einigen Dächern der Altstadt.

Nicht alle diese Leichtgewichte sind fest installiert, sodass sie manchmal an einen anderen Ort gebracht werden, wo ihre Hilfe eben gerade dringender gebraucht wird. An die eher tristen Wohn­gebiete am Stadtrand zum Beispiel oder in einen der Innenhöfe der Universität, wenn Prüfungen anstehen.

In Užupis findet man Kunstgalerien, Kneipen und Cafés

Der berühmteste Engel von Vilnius aber ist ein goldener Posaunenengel. Er ist das Wahrzeichen der freien Republik Užupis. Eine Brücke über den Fluss Vilnia markiert die Grenze zum Rest von Vilnius. Dahinter liegen die engen Gassen und Hinterhöfe von Užupis mit ihren Kunstgalerien, Kneipen, Cafés und Ateliers.

Im 15. Jahrhundert lag hier das Viertel der Armen und Ausgestoßenen der Stadt, das sich in der Neuzeit schließlich zu einem echten Problembezirk entwickelte. Prostitution und Drogenhandel brachten ihn so stark in Verruf, dass die Hauptstraße nach Užupis während der Zeit der sowjetischen Herrschaft „Straße des Todes“ genannt wurde.

Sieben Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Litauens begannen Hausbesetzer, gegen die Vernachlässigung ihres Viertels aktiv zu werden. Ihr Ziel: Endlich frei von der Kontrolle des Kommunismus sollten die Litauer lernen, die Dinge wieder selbst in die Hand zu nehmen. Eine Fähigkeit, die sie in den langen Jahren der Unterdrückung verloren hatten. Sie organisierten Projekte zur Nachbarschaftshilfe, Musikfeste und Kunstaktionen.

1997 wurde die freie Republik Užupis gegründet

Eines dieser Happenings wurde 1997 schließlich zur Gründungsstunde der freien Republik Užupis. Die Unabhängigkeit von Moskau, das hatten die Bewohner des Bezirks erkannt, reichte nicht aus. Auch die Unabhängigkeit vom Rest von Vilnius musste erklärt werden, damit das Viertel durch eine neue Identität ein neues Gemeinschaftsgefühl aufbauen konnte.

Mit Erfolg: Užupis ist zu einem begehrten Wohnquartier der alternativen Szene geworden, ein lebens- und liebenswertes Viertel, wo hölzerne Einhorn-Zebras vom Flussufer grüßen, Kinder auf ausrangierten Klavieren klimpern, während Gäste der Republik im offiziellen Regierungssitz, dem Lokal Užupio kavinė, beim Bier sitzen und den Verliebten zuschauen, die unter einer Brücke schaukeln.

Das In-Viertel gilt als freie Spaßrepublik

Sogar eine eigene Verfassung haben sie ihrer Spaß-Republik gegeben. In mehreren Sprachen übersetzt, in silbrig glänzende Metallschilder eingraviert und auf einer Mauer angeschlagen sind die 41 Artikel des Grundgesetztes zu lesen. Artikel 1: Jeder hat das Recht, beim Fluss Vilnia zu leben, und der Fluss Vilnia hat das Recht, an jedem vorbeizufließen. Artikel 13: Eine Katze ist nicht verpflichtet, ihren Besitzer zu lieben, aber muss in Not­zeiten helfen.

Ein Straßencafé in der Altstadt.
Ein Straßencafé in der Altstadt. © Getty Images/Panoramic Images | Panoramic Images

Neben den viele Kirchen, der charmanten Altstadt und dem Palast gilt Užupis inzwischen als größte Sehenswürdigkeit von Vilnius, und Reiseleiter führen ihre Gruppen nun regelmäßig durch die freie Republik. Zwar lauten die Artikel 39 und 41 ihrer Verfassung: „Lass dich nicht unterkriegen!“ und „Gib nicht auf!“, aber vielleicht ist es ratsam, langsam über einen Verfassungszusatz nachzudenken: „Jede Stadt hat das Recht darauf, nicht besucht werden zu wollen.“

In diesem Herbst reist nun der Papst durch das Baltikum und wird die Aufmerksamkeit noch stärker auf die Region lenken. Zeit, um die russisch-orthodoxen Glaubensbrüder um Unterstützung zu bitten. Deren Heiliggeistkirche in der Altstadt von Vilnius lockt mit ihren wunderbaren Fresken, der barocken Inneneinrichtung und einer wassermanngrünen, altarförmigen Ikonostase bereits mehr Touristen an, als den Gläubigen lieb ist.

Sie fürchten vor allem die Entweihung des Reliquiars, das im Zentrum ihrer Kirche steht. Dabei handelt es sich um einen gläsernen Sarkophag, in dem die Leichen der drei Märtyrer Antonius, Iwan und Eustachius eng nebeneinanderliegen.

Auf dem Rathausplatz können sich Touristen etwas wünschen

Ihre einbalsamierten Knochen werden von goldbestickten Samtkleidern bedeckt, doch die Füße der Heiligen lugen hervor. Sie stecken in weißen Wollsocken, heilsamen Socken. Als Gegenstand der religiösen Verehrung wird nicht bloß dem Körper der Heiligen eine heilkräftige Wirkung zugeschrieben, sondern auch den Kleidungsstücken, die mit der Reliquie in Berührung kamen.

Beim regel­mäßigen Sockenwechsel entscheidet der orthodoxe Priester in Vilnius darüber, welche Gläubigen seiner Gemeinde einer besonderen Hilfe bedürfen, und überlässt ihnen eine Heiligensocke, ganz oder nur ein kleines Stück davon, für den Fall, dass mehrere Personen von ihrer wohltuenden Wirkung profitieren sollen.

Ob die Socken auch einer ganzen Stadt helfen können? Sicherheitshalber begeben sich alle, die Vilnius vor einem Schicksal als überfülltes Touristenziel bewahren möchten, an den Ort, wo schon einmal ein Wunder geschah – auf den Hauptplatz der Kathedrale. Dort fällt in der Nähe des frei stehenden Glockenturms eine Bodenplatte mit einem eingravierten Stern und der Aufschrift „stebuklas“ (Wunder) ins Auge.

Sie erinnert daran, dass genau hier die Menschenkette durch das gesamte Baltikum endete, mit der im Jahr 1989 zwei Millionen Litauer, Letten und Esten erfolgreich gegen die sowjetische Besatzung demonstrierten.

Wer ein Herzensanliegen hat, stellt sich auf die Platte und wünscht sich etwas. Den Touristen hat man übrigens erzählt, sie müssten die Augen schließen, sich dreimal im Uhrzeigersinn drehen, anschließend hochspringen und in die Hände klatschen, damit ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Ein lustiges Schauspiel. Auf diese Weise haben auch Vilnius’ Einwohner ihren Spaß am Tourismus in ihrer Stadt.

Tipps & Informationen

Anreise Ab Berlin z. B. mit Air Baltic oder Ryanair nonstop nach Vilnius oder mit Lot über Warschau.

Unterkunft z. B. im Hotel Mabre Residence in einem ehemaligen Kloster aus dem 16. Jahrhundert und in der Nähe des Szeneviertels Užupis, DZ mit Frühstück
ab 110 Euro, Maironio g. 13, Tel. 003705/ 212/20 87, www.mabre.lt – oder im Hotel Artis in einem Altstadthaus in der Nähe des Nationaltheaters, DZ/Frühst. ab 83 Euro, Totorių g. 23, Tel. 003705/266/ 03 66, www.artis.centrumhotels.com/

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Studiosus Reisen.)