Berlin. Der Pegel steigt doppelt so hoch wie angenommen, stellen US-Forscher an Satellitendaten fest. Was bedeutet das für deutsche Küsten?
Venedig baut ein Sturmflutsperrwerk aus beweglichen Fluttoren, um sein historisches Zentrum zu schützen. Die pragmatischen Niederländer setzen auf schwimmende Häuser. Großbritannien stockt seine Flutbarriere erneut für 1,8 Milliarden Pfund auf, damit die überlaufende Themse nicht die Hauptstadt unter Wasser setzt. Und an den deutschen Küsten werden Deiche im Akkord gebaut – sofern da überhaupt noch Platz für weitere ist. Der durch den Klimawandel bedingte Anstieg des Meeresspiegels ist nicht nur für die Tropen ein Problem, wo ganze Inseln vom Untergang bedroht sind, sondern auch eine wachsende Gefahr für Europa.
Forscher aus den USA haben jetzt aufgrund von Messungen errechnet, dass der Pegel bis 2100 mehr als doppelt so hoch steigen wird wie bisher angenommen – sollte die globale Temperatur weiter so steigen wie bisher. Das errechneten die Wissenschaftler um Steve Nerem von der University of Colorado in Boulder anhand von Satellitenmessungen, wie sie in der Fachzeitschrift „Proceedings“ der US-Nationalen Akademie der Wissenschaften („PNAS“) berichten. Seit 1993 stieg der Meeresspiegel im weltweiten Durchschnitt jährlich um etwa drei Millimeter. Die nun gemessene Beschleunigung könnte dazu führen, dass der Anstieg im Jahr 2100 zehn Millimeter pro Jahr beträgt, so die Ausführungen.
Bis 2100 könnte der Pegel um 65 Zentimeter steigen
Konkret bedeutet das: Bis zum Ende des Jahrhunderts könnte der Durchschnittspegel an den Küsten um 65 Zentimeter höher liegen als im Jahr 2005 – bisher waren etwa 30 Zentimeter angenommen worden. „Und das ist mit ziemlicher Sicherheit eine vorsichtige Schätzung“, wird Nerem in einer Mitteilung seiner Universität zitiert. Bei ihrer Kalkulation gingen die Forscher davon aus, dass sich die Veränderungsrate der vergangenen 25 Jahre in Zukunft fortsetzt. „Angesichts der großen Veränderungen, die wir heute in den Eisschilden sehen, ist das unwahrscheinlich“, betont Nerem. Anders ausgedrückt: Der Anstieg wird wahrscheinlich noch viel höher ausfallen als von den US-Forschern prognostiziert.
Deutsche Klimaforscher halten die Ausführungen für plausibel. „Die Studie stellt sehr glaubhaft dar, dass es eine Beschleunigung des Anstiegs gibt“, urteilt Ingo Sasgen vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. Die Forscher hätten nicht nur neue Messdaten verwendet, sondern diese auch sehr gründlich ausgewertet. So seien zahlreiche Effekte, die nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, herausgerechnet worden.
Eisbären leiden unter dem Klimawandel
Seit 1992 wird der Meeresspiegel durch Satelliten gemessen
Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sieht damit vorherige Erhebungen bestätigt: „Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch innerhalb der Satellitendaten die Beschleunigung des Meeresspiegel-Anstiegs zeigt.“ Dies hätten bereits die langfristigen Messungen mit lokalen Tidepegeln ergeben. „Zuvor war uns aus Sedimentendaten bekannt, dass der Meeresspiegel 2500 Jahre lang stabil war.“ Die neuen Ergebnisse seien ein weiterer Beweis dafür, dass der Anstieg des Meeresspiegels im 20. Jahrhundert hauptsächlich auf globale Erwärmungen zurückzuführen sei, sagt Rahmstorf.
Seit 1992 wird der globale Meeresspiegel durch Satelliten aus dem Weltraum gemessen, die unentwegt die gesamte Meeresfläche abtasten. Die Berechnungen früherer Jahre beruhten dagegen auf lokalen Tidepegeln, die ursprünglich für die Belange der Schifffahrt an den Küsten eingesetzt wurden. Die Tidepegel seien jedoch von vielen regionalen Faktoren abhängig – etwa durch vertikale Landbewegungen, Winde oder Gravitationseffekte, lautet eine Kritik. Nerem und Kollegen verwendeten für ihre Studie die längste bisher vorhandene Satellitenmessreihe zur globalen Meereshöhe. Sie begann mit dem Start des Erdbeobachtungssatelliten „Topex/Poseidon“ im August 1992 und wurde mit den drei „Jason“-Satelliten fortgesetzt.
Exponentielle Kurve mit stets zunehmenden Anstiegsraten
Die Wissenschaftler berücksichtigten verschiedene Faktoren, die den globalen Meeresspiegel beeinflussen, etwa das Klimaphänomen El Niño im Pazifik. Auch die Schwankungen in den Wassermengen, die an Land gespeichert werden, gingen in die statistische Analyse ein. Bedeutsam war zudem der Ausbruch des philippinischen Vulkans Pinatubo 1991: Dessen Auswirkungen auf den Meeresspiegel zeigten sich noch zu Beginn der Satellitenmessreihe. Ebenso glichen die Forscher die Satellitenmessungen, die sich auf das offene Meer beziehen, mit Gezeitenpegelständen an den Küsten ab. Nach Berücksichtigung all dieser Faktoren errechnete Nerems Team eine jährliche Beschleunigung des globalen Pegelanstiegs um 0,08 Millimeter. Es ergibt sich also eine exponentielle Kurve mit stets zunehmenden Anstiegsraten.
Verantwortlich für den Anstieg der Meeresspiegel ist die Erderwärmung. Höhere Temperaturen bringen einerseits große Mengen Gletschereis sowie die Eisschilde in Grönland und in der Antarktis zum Schmelzen. Andererseits erwärmt sich das Ozeanwasser selbst und dehnt sich aus, was zu einem weiteren Anstieg der Pegel führt. Dieser ist seit jeher eine schwierig zu bestimmende Größe, weil er eben von den Klimaszenarien und der daraus abgeleiteten Erwärmung abhängig ist. Die Länder orientieren sich an den Berichten des Weltklimarates IPCC, der etwa alle sechs Jahre veröffentlicht wird.
Die größte Meeresschutzzone der Welt
Forscher warnen vor einem „schlafenden Riesen“
Der aktuelle Report nennt als pessimistischstes Szenario einen Anstieg des Meeresspiegels von 52 bis 98 Zentimetern bis zum Jahr 2100. Dem liegt allerdings die Annahme zugrunde, dass sich der globale CO2-Ausstoß unverändert fortentwickelt. Bislang können Forscher auch nur schlecht einschätzen, wie stark die schmelzenden Eisschilde der Antarktis und Grönlands zum Pegelanstieg beitragen. „Das ist für uns ein schlafender Riese“, sagt AWI-Experte Sasgen.
Bisher orientieren sich die norddeutschen Küstenländer an dem Maximalszenario von 98 Zentimetern bis Ende des Jahrhunderts. Das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie (BSH) warnte im vergangenen Jahr vor einem deutlich höheren Anstieg, wie der Norddeutsche Rundfunk berichtete. Das BSH sehe damit eine „dauerhafte Vernässung“ und „dauerhafte Überflutungsgefahr“ auf die Orte zukommen. Dies habe Auswirkungen auf die Schifffahrt und den Salzgehalt der Böden. Immerhin ging das Bundesamt von einem ausreichenden Schutz vor Überflutungen bis zum Jahr 2050 aus. Die meisten armen Länder in den Tropen können das nicht von sich behaupten.