Bremen. Im Kampf gegen Corona sind es gerade eher entspannte Frühlingswochen - doch die Strategie für den Herbst steht an. Der Ärztetag rückt auch andere praktische Probleme im Gesundheitswesen in den Fokus.

Die Ärzte warnen vor verschärftem Personalmangel und wachsendem wirtschaftlichen Druck bei der Patientenversorgung. Preiswettbewerb, Kosteneffizienz und Renditestreben bestimmten mehr und mehr den Alltag, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, am Dienstag beim Deutschen Ärztetag in Bremen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach rief die Länder zum Ausbau der Medizin-Studienplätze auf. Man könne dies nicht kompensieren, indem man anderen Staaten Ärzte wegnehme. "Das ist unethisch." Der SPD-Politiker bekräftigte, dass für den Herbst wieder mehr staatliche Corona-Schutzvorgaben benötigt werden.

Reinhardt kritisierte, Ärztinnen und Ärzte würden von Klinikträgern und Finanzinvestoren bei Medizinischen Versorgungszentren zunehmend angehalten, nach kommerziellen Vorgaben zu handeln. "Wir dürfen nicht zulassen, dass unser Gesundheitssystem in ein profitorientiertes Franchise-System umgewandelt wird. Und wir wollen auch keine industriegleichen Abläufe in der stationären Versorgung." Nötig sei eine Reform der Krankenhausfinanzierung über die bisherigen starren Pauschalen für Behandlungsfälle. Der Einfluss von Finanzinvestoren auf ambulante Einrichtungen müsse gesetzlich eingedämmt werden.

Digitalisierung und Pandemie -Folgen für Kinder

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz monierte, dass es auch bei Ärzten und gemeinnützigen Kliniken unnütze Selbstzahler-Leistungen und Doppeluntersuchungen gebe. "Geldmacherei gibt es nicht nur bei Großkonzernen", sagte Vorstand Eugen Brysch.

Der Ärztepräsident sagte zur Digitalisierung im Gesundheitswesen, sie habe enormes Potenzial, die Versorgung zu verbessern und die Arbeit zu erleichtern. Anwendungen müssten aber auch störungsfrei und sicher funktionieren. "Es ist das Gegenteil von verantwortungsbewusster Gesundheitspolitik, wenn nicht ausreichend getestete Anwendungen auf Biegen und Brechen eingeführt werden, nur damit die politisch Verantwortlichen einen Haken auf ihrer To-Do-Liste machen können." Lauterbach betonte, dass die Priorität auf Anwendungen liege, die einen sofort spürbaren Nutzen für Patienten wie Ärzte bringen.

Ein Schwerpunktthema beim Ärztetag sind Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche. "Wir müssen Strategien entwickeln, um Kitas und Schulen offen zu halten und den Heranwachsenden auf diese Weise ein weitgehend normales Leben ermöglichen", sagte Reinhardt. Weiteres Thema der viertägigen Beratungen mit 250 Delegierten soll der ärztliche Versorgungsbedarf in einer "Gesellschaft des langen Lebens" sein - also mit Blick darauf, dass es mehr Ältere mit tendenziell mehr Erkrankungen geben dürfte.

Mehr Studienplätze gefordert

Reinhardt sagte dazu der Deutschen Presse-Agentur, die Corona-Krise verdeutliche, wie dünn die Personaldecke schon heute sei - in den Pflegeberufen genauso wie bei Ärztinnen und Ärzten in Praxen, Krankenhäusern und Gesundheitsämtern. Zudem stehe eine "enorme Ruhestandswelle" insbesondere bei niedergelassenen Ärzten bevor. "Wir brauchen mindestens 15 Prozent mehr Studienplätze in der Humanmedizin, um die Versorgung stabil zu halten", forderte er.

Lauterbach bekräftigte, dass die Corona-Pandemie leider nicht vorbei sei. Das Ministerium erarbeite derzeit eine Strategie für einen wieder erwarteten Anstieg der Infektionen im Herbst. Dazu gehörten neben einer neuen Impfkampagne, Testregeln und dem Einsatz von Medikamenten auch erneute Änderungen des bundesweiten Infektionsschutzgesetzes, das zum 23. September ausläuft. Was derzeit an Instrumenten vorhanden sei, werde nicht ausreichen, um im Herbst gut vorbereitet zu sein, sagte Lauterbach. Dabei gehe es um mehr, als nur eine Maskenpflicht in Innenräumen wieder zu ermöglichen.

Die Ärzteschaft verurteilte russische Kriegsangriffe auch auf Gesundheitseinrichtungen in der Ukraine und sicherte den dortigen Medizinern Solidarität zu. Bei einem Portal der Bundesärztekammer zur Vor-Ort-Unterstützung in der Ukraine und der Flüchtlingsversorgung in Nachbarstaaten hätten sich mehr als 1600 Ärztinnen und Ärzte registriert. Sobald Bedarf im Rahmen internationaler humanitärer Missionen gemeldet werde, könnten Ärzte vermittelt werden.

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