Berlin. Nach 16 Jahren scheidet die Bundeskanzlerin aus dem Amt. Von Montag an ist sie nur noch auf Abruf für Deutschland tätig.

Sechzehn Jahre Kanzlerin, sieben gewonnene Direktmandate als Abgeordnete, vier gewonnene Bundestagswahlen – wenn Angela Merkel nach der Bildung einer neuen Regierung abtritt, geht nicht nur die erste weibliche Kanzlerin. Es geht eine Rekordfrau, die die CDU, Deutschland und Europa verändert hat. Aber was bleibt von Merkel, wenn sie ihr Büro im Kanzleramt für immer verlässt?

Die Partei: So veränderte Merkel die CDU

Es waren 180 Zeilen in der ehrwürdigen „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die Angela Merkels Machtanspruch dokumentierten. Unter der Überschrift „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“ beschrieb sie in einem Gastbeitrag zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 1999 die Zukunft der CDU ohne das „alte Schlachtross“ Kohl. Es war der öffentliche Bruch mit dem Kanzler der Einheit und dem Rekordvorsitzenden der CDU. Lesen Sie auch: 16 Jahre Angela Merkel – das sagen ihre Wegbegleiter

Der Beitrag Merkels bedeutete für Helmut Kohl den endgültigen Absturz in den Spendensumpf, der ihn Reputation und viel Geld kostete. Für die CDU-Generalsekretärin war er der Auftakt zu einem unaufhaltsamen Aufstieg in der Partei. Helmut Kohl, der nichts mehr hasste als Illoyalität oder den Verrat, hat ihr diesen Schritt nie verziehen. Die versöhnlichen Gesten viele Jahre später waren inszeniert für die Kameras und folgten nicht den wahren Gefühlen, die der Pfälzer für seine Nachfolgerin seit dem Bruch empfand.

Die CDU müsse sich „wie jemand in der Pubertät von zu Hause lösen“. „Die Partei muss laufen lernen“, schrieb die Generalsekretärin damals, als sie 45 Jahre alt war. Auch Wolfgang Schäuble, der Parteichef, gelähmt durch die Schüsse eines irren Attentäters, wurde bei diesem Neuanfang beiseitegeschoben und musste als Parteichef zurücktreten. Diese Zäsur war die vielleicht einschneidendste in der Geschichte der Partei und wird immer mit dem Namen Angela Merkel verbunden bleiben.

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Angela Merkel (CDU, seit 16 Jahren Bundeskanzlerin in Deutschland.
Angela Merkel (CDU, seit 16 Jahren Bundeskanzlerin in Deutschland. © Getty Images | Pool

Merkel hat die CDU zu alter Größe zurückgeführt

Neunmal wurde Merkel zur Parteivorsitzenden gewählt. 2012 mit dem besten Ergebnis: 97,9 Prozent. Die erste Frau an der Spitze der Partei hat die CDU zu alter Größe zurückgeführt und die unappetitliche Parteispendenaffäre abgeschüttelt. Sie hat die Partei in die Mitte geführt und dabei gleich eine ganze Reihe Alphatiere der Union domestiziert oder abserviert. Wolfgang Schäuble, Friedrich Merz, Edmund Stoiber sind nur einige, die ihren meist gut getarnten Machtwillen zu spüren bekamen.

Es ist die Ironie der Geschichte, dass mit dem Abgang der starken CDU-Kanzlerin die Partei schwach ist wie noch nie und erstmals darum bangen muss, nicht als stärkste Kraft aus einer Bundestagswahl zu kommen. „Wir haben einander nicht geschont“, sagte Angela Merkel in ihrer letzten Rede als Parteichefin vor den CDU-Delegierten. Man hat einander auch zu wenig geholfen, möchte man hinzufügen.

Merkels glücklose Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer kam zwar mit Merkels Hilfe ins Amt, dort angekommen, mangelte es aber an echter Unterstützung. Armin Laschet bekam noch weniger davon ab, obwohl er sie am meisten gebraucht hätte.

Die Flüchtlinge

Angela Merkels Politikstil als Vorsitzende und als Kanzlerin war nie spaltend. Wo die Partei einen scharfen und deftigen Angriff gegen den politischen Gegner erwartete, habe sie lieber mit dem Florett gekämpft oder geschwiegen, bekannte sie in ihrer Abschiedsrede. Dennoch muss man feststellen, dass die Kanzlerin das Land zumindest in einer Frage nachhaltig gespalten hat.

Die einsame Entscheidung der Pfarrerstochter Angela Merkel, der christlichen Lehre folgend Hunderttausenden Menschen auch ohne Rechtsgrundlage eine Bleibe zu bieten, hat die Partei und das Land vor eine Zerreißprobe gestellt. Dieser historische Schritt hat Spuren bis heute hinterlassen und sicher auch den Aufstieg rechter Kräfte begünstigt.

Horst Seehofer, der für die Kanzlerin in der entscheidenden Nacht nicht erreichbar in seinem Ferienhaus im Altmühltal schlief, sah durch Merkels Entscheidung eine „Herrschaft des Unrechts“ in Deutschland an der Macht. Merkels zutiefst loyaler Innenminister Thomas de Maizière sprach von „Kontrollverlust“.

Viele Flüchtlinge konnten integriert werden und fanden Arbeit. Aber etliche – besonders junge Männer – wurden auch kriminell. Einzelne töteten im Namen der Religion unschuldige Bürger, wie zuletzt in Würzburg. Die Massenflucht 2015 und ihre Folgen sind bis heute politisch nicht vollständig verarbeitet, und Merkels Versprechen „Wir schaffen das!“ muss von den Nachfolgern eingelöst werden. Es sind diese fast eine Million zugewanderten Menschen, die heute das komplizierteste Erbe der Ära Merkel darstellen.

Die Berufsarmee

„Wir sind hier nicht bei ‚Wünsch Dir was‘, sondern bei ,Das ist so‘!“ Millionen junge Männer haben diesen und ähnliche Sprüche bei der Bundeswehr gehört. Sie haben dumpf Zeit totgeschlagen oder im besten Fall mit jungen Jahren große Verantwortung für Menschen und Gerät getragen. Fünfzehn Monate Wehrpflicht haben jedenfalls alle geprägt, die sie selbst erlebt haben.

Die Bundeswehr wurde durch die „W15er“ zu einer Bürgerarmee mit Rekruten, die zu Hause Geschichten vom Bund erzählten, während die Mütter den verschlammten Kampfanzug in die Waschmaschine stopften.

2010 war die Wehrpflicht Geschichte. Die Kanzlerin, mit wenig Liebe für alles Militärische ausgestattet, ebnete der Berufsarmee endgültig den Weg. Gelegentlich blitzt noch Wehmut darüber in der CDU auf. Aber auch diese wird vergehen und die Berufsarmee als eines von Angela Merkels Vermächtnissen bleiben.

Der Atomausstieg

Es war die studierte Physikerin und die junge Umweltministerin, die früh die Vorzüge der friedlichen Atomenergie erkannte. Im Dezember 1994 urteilte Angela Merkel, damals 40: „Im Licht des CO-Problems ist die Kernkraft eine saubere, unter Sicherheitsaspekten verantwortbare Energie und auch für die Zukunft wichtig.“ Diese Zukunft, die Merkel damals logisch beschrieb, sollte nur bis zum 11. März 2011 andauern.

Am Nachmittag um 14.47 Uhr japanischer Zeit löste ein unterirdisches Seebeben einen Tsunami aus, der mit einer 40 Meter hohen Wasserwand die Atomanlage von Fukushima und den Ruf der sicheren Kernkraft zerstörte. 24 Jahre nach Tschernobyl war diesmal in einem westlich geprägten Hightech-Land eine ganze Region verseucht worden.

Die Kanzlerin, in diesem Moment mehr Politikerin als Physikerin, stand mit ihrer CDU vor sieben Landtagswahlen und kassierte in einem historischen Wendemanöver die erst drei Monate zuvor beschlossene Laufzeitverlängerung der deutschen Kernkraftwerke: der Anfang vom Ende der zivilen deutschen Atomkraft.

Ausgerechnet die Klimakämpferin Greta brachte in einem umstrittenen Tweet die ungeliebte Kernkraft wieder in Erinnerung. Sie könnte ein kleiner Teil einer großen neuen CO2-freien Energielösung sein. Politisch ist dieser Zug jedoch längst abgefahren. Und es war die Physikerin Angela Merkel, die das Abfahrtssignal gab.

Die europäischen Krisen

Die große Klammer von vier Amtszeiten Merkels waren nicht Visionen von einer besseren Zukunft oder ein konkreter Plan zur Zukunft Deutschlands. Der rote Faden aller Amtszeiten war das wiederholte Bekämpfen europäischer Krisen. Selbst härteste Merkel-Kritiker räumen ein, dass Europa heute schlechter dastünde, hätte die Kanzlerin nicht mit Geduld, Klugheit und zähem Sitzfleisch die schlimmsten Krisennächte Europas moderiert. Die Finanzkrise, die Flüchtlingskrise, die Brexitkrise und die Legitimationskrise der EU waren die größten.

Vieles hat sich durch die Politik (und Spendierfreudigkeit) der Regierungschefin zum Besseren gewendet. Merkels Satz in der Finanzkrise, „Wir sagen den Sparerinnen und Sparern, dass ihre Einlagen sicher sind“, war mehr Bluff als Wahrheit – aber er kam genau im richtigen Moment und hat verhindert, dass Millionen Deutsche panisch Banken und Geldautomaten stürmten.

Diese analytische Vernunft, gepaart mit großer Erfahrung für den entscheidenden Verhandlungsmoment wird Europa fehlen. Die europäischen Krisen aber werden bleiben und neue werden hinzukommen, wie die Auseinandersetzung mit dem zunehmend EU-feindlichen Polen, die sich zu einem „Polexit“ auswachsen kann.

Der Stil

Deutsche Kanzler in der Zeit nach 1945 neigten grundsätzlich nicht zu Angebertum und großer Geste. Adenauer spielte im Sommerurlaub Boccia in Italien, für Ludwig Erhard war „Reichtum für alle“ wichtiger als für sich selbst, und auch Helmut Kohl regierte viel lieber in Strickjacke als im Smoking. Angela Merkel aber hat das Unprätentiöse, das Bodenständige zu einem neuen Politikstil geadelt.

Besuchern im Kanzleramt schenkte sie persönlich den Kaffee nach, weil ihr livrierte Ordonnanzen zu kompliziert sind. Die mächtigste Regierungschefin Europas fuhr Golf, nächtigte am liebsten in Drei-Sterne-Familienhotels, schleppte die Einkaufstüten eigenhändig bei Ullrich an die Kasse und servierte milliardenschweren Unternehmern zum Abendessen Königsberger Klopse.

Runde Geburtstage feierte sie nicht mit Banketten, sondern mit wissenschaftlichen Vorträgen und danach bei einem Glas Wein mit Brezel. Ihre Kraft tankte sie nach anstrengenden Sitzungswochen im Garten ihrer Hohenwalder Datsche, wo sie persönlich das Unkraut aus den Rabatten riss.

Dieses Nichtanfälligsein für das große Geld sorgte gleichzeitig für Respekt bei den Regierten und für Unverwundbarkeit im Umgang mit den Superreichen und Geschäftemachern, die Regierungschefs umschwirren wie Motten das Licht. Dass Angela Merkel demnächst wie Gerhard Schröder in hoch dotierten Aufsichtsgremien unter russischem Einfluss auftaucht, darf ausgeschlossen werden.