Berlin/Brüssel. Der Nutzen ist höher zu bewerten als das Risiko - das sagt die EU-Arzneimittelbehörde zu Astrazeneca. Doch Deutschland lässt weiterhin lieber Vorsicht walten. Wie machen es die anderen EU-Länder?

Trotz der Entscheidung der EU-Arzneimittelbehörde EMA zur uneingeschränkten Anwendung von Astrazeneca wird der Corona-Impfstoff in manchen Länder weiter nur älteren Bürgern geimpft - auch in Deutschland.

Was die EMA gemacht habe, könne man mit Sicherheit rechtfertigen, sagte der Infektionsimmunologe Christian Bogdan bei einer Online-Diskussion des Science Media Centers gestern Abend. "Aber das, was die Stiko gemacht hat, kann man sicherlich genauso rechtfertigen", meinte Bogdan, der Mitglied in der Ständigen Impfkommission (Stiko) ist.

Derweil soll die Entscheidung über den Wechsel von Astrazeneca zu einem anderen Präparat für die Corona-Zweitimpfung erst in der kommenden Woche fallen. Zunächst wollen die Gesundheitsminister der Länder am Dienstag mit Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und den Vorsitzenden der deutschen Ständigen Impfkommission (Stiko), Thomas Mertens, aber noch offene Fragen diskutieren, heißt es aus den Reihen der Länderminister.

Die Stiko hatte den Astrazeneca-Impfstoff zuletzt erst ab 60 Jahren empfohlen. Menschen unter 60 Jahren, die bereits eine erste Corona-Impfung mit dem Präparat von Astrazeneca erhalten haben, bei der zweiten Impfung auf einen anderen Impfstoff umsteigen sollen. Grund war unter anderem das Auftreten von Hirnvenenthrombosen bei 1 bis 2 unter 100.000 geimpften jüngeren Frauen in Deutschland. Es gab auch wenige Fälle bei Männern in Deutschland - jedoch wurden bisher bundesweit 2,5 Mal mehr Frauen das erste Mal mit Astrazeneca geimpft. Bogdan sagte, die EMA-Entscheidung werde sicher ein Thema in einer der nächsten Stiko-Sitzungen werden.

Der Vorsitzende der deutschen Ständigen Impfkommission (Stiko) widerspricht derweil der Wahrnehmung, es gebe Meinungsverschiedenheiten unter Experten. Es gebe keinen Widerspruch zwischen den Einschätzungen der EU-Arzneimittelbehörde EMA, dem Paul-Ehrlich-Institut und der Stiko, sagte der Virologe Thomas Mertens im RBB-Inforadio. Dass der Astrazeneca-Impfstoff in seltenen Fällen zu schweren und auch lebensgefährlichen Nebenwirkungen (bestimmten Arten von Blutgerinnseln) führen könne, bestreite niemand.

Mertens betonte vielmehr die unterschiedlichen Aufgaben und Blickwinkel der Institutionen: Die EMA sei für die grundsätzliche Zulassung zuständig, machte er deutlich. Bei der Stiko gehe es vielmehr darum, den Impfstoffeinsatz zum besten Nutzen der Bevölkerung in Deutschland zu regeln.

EU-Gesundheitskommissarin Stelle Kyriakides rief die EU-Staaten bei einer Videokonferenz der nationalen Gesundheitsminister am Mittwochabend zu einem abgestimmten Vorgehen auf, um das öffentliche Vertrauen zu stärken. "Unsere Entscheidungen sollten nun auf der wissenschaftlichen Arbeit der EMA beruhen, und einer gründlichen, fortlaufenden Bewertungen der Risiken und Vorteile." Auch der portugiesische Vorsitz der EU-Staaten forderte die Mitgliedsstaaten zu einer möglichst abgestimmten Position auf. Portugals Gesundheitsministerin Marta Temido sagte: "Das ist eine technische Entscheidung. Es ist keine politische Entscheidung." Man dürfe nicht vergessen, dass einzelne Entscheidungen sich auf alle auswirkten.

In den ersten Ländern wurden nach der EMA-Mitteilung von gestern Nachmittag bereits Entscheidungen zur weiteren Verwendung des Astrazeneca-Präparats getroffen. Italien änderte seine Richtlinien - Astrazeneca wird nun wie in Deutschland nur noch für über 60-Jährige empfohlen. Das gab der Präsident des obersten Gesundheitsinstituts (CTS), Franco Locatelli bekannt. Auch in Spanien soll Astrazeneca vorerst nicht mehr an unter 60-Jährige verabreicht werden. Das habe das Gesundheitsministerium den Regionen des Landes empfohlen, teilte Ministerin Carolina Darias mit. Es handele sich um einen vorläufige Vorschlag. In Österreich sprach sich das nationale Impfgremium dafür aus, der EMA-Empfehlung zu folgen.

Unterdessen zeigte sich der Virologe Hendrik Streeck überrascht über die Empfehlung der Stiko, Menschen in Deutschland nach einer Impfung mit Astrazeneca eine Zweitimpfung mit Biontech oder Moderna anzubieten. "Da sind die klinischen Studien noch nicht gelaufen. Ich hielte es für notwendig, sich an die Regeln zu halten und abzuwarten, ob die Studien erfolgreich sind", sagte er der "Fuldaer Zeitung" (Donnerstag). Er halte es aber für eine "nachvollziehbare" Entscheidung, Astrazeneca bei Menschen unter 60 Jahren nicht mehr zu impfen - auch wenn der Impfstoff an sich gut und sicher sei.

Die Stiko hatte empfohlen, dass Menschen unter 60 Jahren, die bereits eine erste Corona-Impfung mit dem Präparat von Astrazeneca erhalten haben, bei der zweiten Impfung auf ein anderes Mittel umsteigen sollen. Experten vermuten, dass das sehr geringe Risiko einer Hirnvenenthrombose jüngere Menschen betrifft. Die Stiko riet, als zweite Dosis einen mRNA-Impfstoff zu verabreichen. In Deutschland sind die mRNA-Impfstoffe von Biontech/Pfizer und Moderna zugelassen.

Bereits gestern wollte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) mit seinen Länderkollegen eigentlich auch über die Zweitimpfungen für junge Leute beraten, die mit dem Wirkstoff von Astrazeneca geimpft wurden. Über ein Ergebnis wurde aber zunächt nichts bekannt.

Der Vorsitzende der Stiko, Thomas Mertens, sagte der "Rheinischen Post" (Donnerstag) zu der Empfehlung zur Zweitimpfung: "Der Schutz gegen Covid-19 nimmt bei einmaliger Astrazeneca-Impfung nach gewisser Zeit ab." Mertens meinte, dass es bei einer Zweitimpfung mit einem anderen Impfstoff sogar zu einer besseren Schutzwirkung kommen könne.

Die EU-Arzneimittelbehörde EMA empfahl gestern uneingeschränkt die Anwendung von Astrazeneca. Der Nutzen sei höher zu bewerten als die Risiken, erklärte die EMA in Amsterdam. Die britische Impfkommission änderte dagegen ihre Empfehlung: Das Präparat soll künftig möglichst nur noch über 30-Jährigen verabreicht werden.

Stiko-Chef Mertens sagte zudem der "Augsburger Allgemeinen", dass die Stiko und das Robert Koch-Institut Vorschläge prüfen wollten, für eine größere Anzahl an Erstimpfungen den Abstand zur Zweitimpfung bei Mitteln von Biontech und Moderna zu verlängern. "Stiko und RKI beschäftigen sich intensiv auch mit dieser Frage und wollen zu einer wissenschaftlich begründbaren Stellungnahme kommen."

Der Virologe Klaus Überla, der ebenfalls der Stiko angehört, zeigte sich allerdings skeptisch. "Hinweise auf eine nachlassende Wirksamkeit beginnend sechs Wochen nach einer Biontech mRNA Immunisierung sprechen aus meiner Sicht gegen diesen Vorschlag", sagte er der "Augsburger Allgemeinen". Die Stiko empfahl zuletzt einen Abstand von sechs Wochen bei Biontech und Moderna für die Zweitimpfung. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach und andere Wissenschaftler hatten am Osterwochenende einen Kurswechsel hin zu möglichst vielen kurzfristigen Erstimpfungen gefordert.

© dpa-infocom, dpa:210408-99-121667/7