Brüssel. Eine Mischung aus Abschreckung und Dialog: Das ist der Kurs der Kanzlerin für den Umgang mit Russland. Beim EU-Gipfel in Brüssel kann sich Angela Merkel damit allerdings nicht durchsetzen.

Die Europäische Union schlägt einen härteren Kurs gegenüber Russland ein und verzichtet vorerst auf eine Wiederaufnahme des direkten Dialogs mit Kremlchef Wladimir Putin.

Ein vor allem von Kanzlerin Angela Merkel ausgehender Vorstoß für ein Gesprächsangebot scheiterte beim EU-Gipfel in Brüssel am Widerstand osteuropäischer Staaten. Einig wurden sich die 27 EU-Länder allerdings darüber, Russland künftig deutlich stärker Grenzen aufzuzeigen.

Laut der Gipfelerklärung soll es "auf jede weitere böswillige, rechtswidrige und disruptive Aktivität Russlands" künftig eine entschlossene und koordinierte Reaktion geben. Dafür wird ein Plan für Strafmaßnahmen erarbeitet, der auch Wirtschaftssanktionen umfasst. Die EU müsse die ihr zur Verfügung stehenden Instrumente in vollem Umfang nutzen, heißt es in der Erklärung zum Treffen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel.

Kanzlerin Merkel machte nach den Beratungen keinen Hehl daraus, dass sie sich neben den Sanktionsdrohungen auch ein neues Gesprächsangebot an Putin gewünscht hätte - zum Beispiel, um beim Klimaschutz und anderen Themen Möglichkeiten für mehr Zusammenarbeit auszuloten. "Ich persönlich hätte hier mir einen mutigeren Schritt gewünscht", sagte sie.

Merkel verwies darauf, dass auch US-Präsident Joe Biden gerade erst mit Putin gesprochen habe, um kontroverse Fragen zu diskutieren. Aus ihrer Sicht sollte auch die EU Formate finden, um wieder mit Russland zu reden. "Denn wir wollen ja auch eine geeinte Meinung in unserem Verhältnis bezüglich Russland haben", sagte sie.

Nach Angaben von Diplomaten lehnten vor allem osteuropäische EU-Staaten wie Polen, Lettland, Estland und Litauen ein Gesprächsangebot an Putin ab. Der lettische Ministerpräsident Krisjanis Karins warnte, Zugeständnisse ohne Gegenleistung sehe der Kreml nicht als Zeichen von Stärke.

Merkel sagte dazu nach dem Gipfel: "Ich will ausdrücklich sagen, dass ich solche Gespräche mit dem russischen Präsidenten nicht in der Form von Belohnung oder Nicht-Belohnung sehe, sondern ich glaube, dass wir uns darauf besinnen müssen, dass auch im Kalten Krieg unter den schwierigsten Bedingungen (...) immer Gesprächskanäle da waren."

Russland reagierte mit Bedauern auf den Ausgang des EU-Gipfels. Leider habe sich eine Reihe von EU-Staaten gegen den Dialog mit Russland ausgesprochen, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge. Zugleich erklärte er, dass Putin weiter an einer Zusammenarbeit zwischen Moskau und Brüssel interessiert sei.

Zu "böswilligen und rechtswidrigen" Handlungen, die künftig deutlich härter beantwortet werden sollen, zählen zum Beispiel Hackerangriffe und Operationen russischer Geheimdienste in EU-Staaten. Auch eine deutlichere und schnellere Antwort auf konfliktträchtige Fälle wie den des zunächst vergifteten und dann inhaftierten Kremlgegners Alexej Nawalny soll möglich sein.

Als Beispiele für von Russland verantwortete Aktivitäten innerhalb der EU gelten in Brüssel der mutmaßliche Auftragsmord an einem Georgier tschetschenischer Abstammung im Berliner Tiergarten vor knapp zwei Jahren und die massive Cyberattacke auf den Bundestag 2015. Zuletzt beschuldigte zudem Tschechien russische Dienste, für Explosionen in einem Munitionslager im Jahr 2014 verantwortlich gewesen zu sein. Dabei waren zwei Menschen ums Leben gekommen.

Reaktionen auf solche Fälle fielen bislang vergleichsweise zurückhaltend aus. So wurden zum Beispiel russische Diplomaten ausgewiesen oder eher symbolische Sanktionen gegen Funktionäre oder staatliche Stellen erlassen.

Neben der Russland-Politik sorgte beim Gipfel auch das neue ungarische Gesetz zur Einschränkung von Informationen über Homosexualität und Transsexualität für Streit. Viele Staats- und Regierungschefs gingen den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban hinter verschlossenen Türen hart an. Einige stellten nach Angaben von Diplomaten sogar in Frage, ob Ungarn bei der Fortsetzung seiner aktuellen Politik noch einen Platz in der EU haben kann oder brachten die Kürzung von EU-Geldern über den neuen Rechtsstaatsmechanismus ins Spiel.

Merkel sagte, sie könne sich nicht daran erinnern, dass es beim EU-Gipfel schon einmal zu einer Diskussion "in einer solchen Tiefe und Ehrlichkeit" gekommen sei. Man habe deutlich gemacht, dass der Zugang homosexueller Menschen zu Hilfe, Unterstützung und Aufklärung nicht begrenzt werden dürfe. Toleranz und Respekt seien "ein Herzstück der Europäischen Union".

Das ungarische Gesetz verbietet Publikationen, die Kindern zugänglich sind und nicht-heterosexuelle Beziehungen darstellen. Auch wird Werbung verboten, in der Homosexuelle oder Transsexuelle als Teil einer Normalität erscheinen.

Merkel und viele ihrer EU-Kollegen sehen das Gesetz als Gefahr für europäische Grundwerte. Luxemburgs Premierminister Xavier Bettel, der mit einem Mann verheiratet ist, zeigte sich auch persönlich getroffen von der aktuellen Politik Orbans. Bettel erinnerte an ein Abendessen, dass er vor fünf oder sechs Jahren zusammen mit seinem Partner und Orban in Budapest gehabt habe. "Ich erkenne Viktor Orban heute nicht wieder", sagte er. "Das ist nicht der gleiche."

Orban wies die Vorwürfe gegen ihn und das Gesetz zurück. Das Gesetz sorge dafür, dass Eltern allein darüber entscheiden könnten, wie sie die sexuelle Erziehung ihrer Kinder gestalten wollten, erklärte er in Brüssel. Es richte sich nicht gegen Homosexualität. Er verteidige vielmehr die Rechte von Homosexuellen.

Keine großen Gipfel-Fortschritte gab es bei Fragen zum Umgang mit neuen Coronavirus-Varianten und mit der Türkei. So blieb offen, ob die Mitgliedstaaten künftig in der Lage sein werden, Reisebeschränkungen einheitlicher zu gestalten und besser zu koordinieren. Mit Blick auf die Türkei beteuerten die Staats- und Regierungschefs den Willen zur verstärkten Zusammenarbeit bei bestimmten Themen unter bestimmten Bedingungen. Wann Gespräche über die angedachte Modernisierung der Zollunion aufgenommen werden könnten, wurde allerdings mangels Einigkeit offen gelassen.

Eine klares Signal gab es dagegen für weitere Hilfen für die Versorgung von Flüchtlingen aus Syrien. Die EU-Kommission soll dafür nun einen konkreten Vorschlag erarbeiten. Erwogen wird ein Betrag von 3,5 Milliarden Euro bis 2024.

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