Moskau/Berlin. Nach seiner Landung in Moskau ist der Kremlgegner Nawalny prompt in Haft gekommen. Das Entsetzen ist international groß, weil Moskau das Opfer eines Mordanschlags weiter politisch verfolgt. Aber Russland zeigt sich von Kritik völlig unbeeindruckt.

In einem umstrittenen Eilverfahren in einer russischen Polizeistation hat ein Gericht den Kremlgegner Alexej Nawalny nach seiner Rückkehr aus Deutschland zu 30 Tagen Haft verurteilt.

Der 44-Jährige habe gegen Meldeauflagen nach einem früheren Strafprozess verstoßen, hieß es. Die Haft gelte bis zum 15. Februar, teilte Nawalnys Sprecherin Kira Jarmysch am Montag mit. Der russische Oppositionsführer kritisierte das Verfahren als politische Inszenierung mit dem Ziel, ihn zum Schweigen zu bringen. Er rief seine Anhänger zu Protesten auf. Es gab erneut Festnahmen.

Auch die EU und die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderten Russland auf, den Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin umgehend freizulassen. "Die russischen Behörden haben das Opfer eines Mordanschlags mit C-Waffen verhaftet und nicht die Täter", sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin. Die russische Regierung müsse die Umstände des Chemiewaffenangriffs auf Nawalny "vollumfänglich" aufklären und verfüge dazu über alles Notwendige.

Nawalny war im August in Russland Opfer eines Anschlags mit dem als Chemiewaffe verbotenen Nervengift Nowitschok geworden und anschließend in Deutschland behandelt worden. Am Sonntag kehrte er nach Russland zurück und wurde gleich nach seiner Landung in Moskau festgenommen. Er sei zur Fahndung ausgeschrieben gewesen, teilte der Strafvollzug zur Begründung mit. Der Kremlkritiker soll während seines Aufenthalts in Deutschland, wo er sich von dem in Russland verübten Anschlag erholte, gegen Bewährungsauflagen in einem früheren Strafverfahren verstoßen haben.

Regierungssprecher Seibert erinnerte daran, dass das Urteil, dessen Bewährungsauflagen die Grundlage für die Verhaftung sein sollen, vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 2017 als willkürlich eingestuft worden sei. Russland sei damals zur Zahlung einer Entschädigung an Nawalny und seinen Bruder verurteilt worden. "Herrn Nawalny die Verletzung von Bewährungsauflagen aus einem willkürlichen Urteil vorzuwerfen, verstößt gegen rechtsstaatliche Prinzipien."

Im Übrigen habe sich Nawalny seit dem Mordanschlag auf ihn in Deutschland zur Rekonvaleszenz aufgehalten. "Es ist völlig unhaltbar, Herrn Nawalny für diesen Zeitraum die Verletzung von Bewährungsauflagen vorzuwerfen", sagte Seibert. Zu missbilligen sei auch, dass die richterliche Anhörung Nawalnys äußerst kurzfristig am Montagvormittag und auf der Polizeistation stattgefunden habe.

Nawalny selbst beklagte, dass auch keine unabhängigen Journalisten zu der Verhandlung zugelassen waren. Er rief in einem per Video verbreiteten Appell zu Protesten gegen Justizwillkür in Russland auf. "Habt keine Angst, geht auf die Straße!", sagte er noch im Verhandlungssaal. Seine Sprecherin Jarmysch veröffentlichte ein Video mit dem Aufruf. Darin warf Nawalny dem Moskauer Machtapparat vor, keine Beziehungen mehr zur Rechtsstaatlichkeit zu haben.

Die Menschen sollten aber nicht für ihn auf die Straße gehen, sagte Nawalny, sondern für ihre eigene Zukunft - für ein freies Russland. Das Land degeneriere unter dem seit mehr als 20 Jahren regierenden Kremlchef Putin, sagte er. "Schweigt nicht! Wehrt Euch! Wir sind viele und können etwas erreichen."

Protestaufrufe dieser Art werden in Russland immer wieder hart bestraft. Demonstrationen sind nur mit Genehmigung möglich. Eine Erlaubnis gibt es aber wegen der Corona-Pandemie schon seit langem nicht mehr. Mehrere Demonstranten wurden festgenommen - wie bereits am Sonntag, als Hunderte Menschen auf dem Moskauer Flughafen Wnukowo die Ankunft des Politikers aus Berlin erwarteten. Insgesamt gab es in Russland allein am Sonntag etwa 70 Festnahmen.

In einem Video bei Twitter beklagte Nawalny, dass die Justiz in Russland eine neue Stufe der "Gesetzlosigkeit" erreicht habe. "Ich habe oft gesehen, wie der Rechtsstaat ins Lächerliche gezogen wird, aber dieser Opi in seinem Bunker fürchtet sich inzwischen so sehr (...), dass nun einfach der Strafprozesskodex zerrissen und auf die Müllhalde geworfen wird", sagte Nawalny in dem improvisierten Gerichtszimmer. Mit "Opi in seinem Bunker" meint er Putin, der wegen der Corona-Pandemie meistens in seiner Moskauer Vorstadtresidenz per Video-Schalte arbeitet. "Es ist unmöglich, was hier passiert."

Die russische Führung schwieg weitgehend zu dem Verfahren um Nawalny. Außenminister Sergej Lawrow gab in Moskau zwar eine Online-Pressekonferenz, betonte aber, er sei für die rechtliche Seite des Falls in Russland nicht zuständig. Das sei Sache der russischen Sicherheitsorgane. Gleichwohl forderte er Deutschland erneut scharf dazu auf, Beweise für eine Vergiftung Nawalny vorzulegen. "Erfüllen Sie Ihre internationalen Verpflichtungen", forderte Lawrow.

Russland habe bei Nawalny keine Vergiftung mit dem chemischen Kampfstoff Nowitschok nachweisen können und leite deshalb keine Ermittlungen ein. Er schlug alternativ vor, dass russische Ärzte und ihre westlichen Kollegen gemeinsam die Proben untersuchen könnten – "damit Vertrauen entsteht".

Mehrere Labore, darunter eins der Bundeswehr, hatten im Blut Nawalnys das Nervengift Nowitschok nachgewiesen. Die EU verhängte deshalb auch Sanktionen gegen Vertreter des russischen Machtapparats. Der Oppositionelle Nawalny sieht ein "Killerkommando" des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB unter Putins Befehl hinter dem Attentat vom 20. August. Putin und der FSB weisen die Anschuldigungen zurück.

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