Moskau. Lange war offen, wann der vergiftete Kremlgegner Nawalny in seine Heimat zurückkehrt. Die russischen Behörden ermitteln gegen ihn und wollen ihn ins Gefängnis stecken. Der Oppositionsführer lässt sich davon nicht einschüchtern - und geht ein hohes Risiko ein.

Fünf Monate nach einem Giftanschlag will der Kremlgegner Alexej Nawalny nach Russland zurückkehren.

Der 44-Jährige kündigte am Mittwoch auf Twitter an, dass er am Sonntag mit einer Maschine der russischen Fluggesellschaft Pobeda in Moskau landen werde. Pobeda heißt auf Deutsch: Sieg. Ob die Abreise aus Deutschland einem politischen Sieg gleichkommt oder Nawalny womöglich rasch im Gefängnis landet, darüber entzündete sich in Russland eine Debatte. In seiner Heimat drohen ihm Strafverfahren und Haft. Er hatte Kremlchef Wladimir Putin als "Mörder" bezeichnet.

Seit August hält sich Nawalny nach dem Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok in Sibirien zur Heilung in Deutschland auf. Er habe Russland nicht selbst verlassen, meinte er mit Blick auf sein damaliges Koma. "Ich bin in einer Wiederbelebungskiste in Deutschland angekommen." In einem bei Instagram verbreiteten Video lobte er Deutschland als "klasse Land". Er hat immer wieder betont, den politischen Kampf gegen das "System Putin" nur in Russland selbst fortsetzen zu können.

Im Herbst ist in Russland Parlamentswahl. Nawalny will das Machtmonopol der Kremlpartei Geeintes Russland brechen. Mehrere Kommentatoren und Politiker in Moskau sprachen von einem mutigen Schritt und einer echten "Kämpfernatur" Nawalnys - aber auch von einem hohen Risiko, umgehend ausgeschaltet zu werden.

Der Kremlkritiker war nach dem Anschlag am 20. August auf einem Inlandsflug nach Moskau zusammengebrochen. Nach einer Notlandung in Omsk wurde er zunächst von russischen Ärzten behandelt und dann am 22. August in die Berliner Universitätsklinik Charité gebracht. Nach seiner Entlassung blieb er wegen einer Reha-Maßnahme in Deutschland.

Die Politologin Tatjana Stanowaja meinte, dass der Kreml schon zu weit gegangen sei. Die Geheimdienste und andere Sicherheitsstrukturen könnten es als Schwäche auslegen, wenn Nawalny nicht festgenommen würde. "Sie haben darauf gesetzt, dass er nicht zurückkommt." Nun habe der Kreml kaum eine andere Wahl. Die ganze Situation erinnere an zwei Züge, die aufeinander zurasten. "Es wird viele Opfer geben."

Der frühere Oligarch Michail Chodorkowski, der selbst nach Kritik an Putin viele Jahre im Gefängnis saß, warnte in seinem Exil im Ausland vor der Gefahr einer jahrzehntelangen Inhaftierung. Menschenrechtler kritisieren das russische Justizsystem als nicht unabhängig - und von Machtinteressen gesteuert. Auch Nawalny hat vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg immer wieder gewonnen mit Klagen gegen den russischen Staat.

Für den Anschlag mit einem chemischen Kampfstoff der Nowitschok-Gruppe macht er ein "Killerkommando" des Inlandsgeheimdienstes FSB verantwortlich, das unter Befehl Putins agiert habe. Der Präsident sagte, dass Nawalny hätte getötet werden können, wenn dies das Ziel gewesen wäre. Putin betonte aber mehrfach, dass er selbst Nawalnys Rettungsflug nach Deutschland genehmigt habe.

Moskau bestreitet seit Monaten, dass es eine Vergiftung gab und spricht von einer Inszenierung westlicher Geheimdienste. Die russischen Behörden lehnten eigene Ermittlungen aus Mangel an Beweisen ab. Allerdings wiesen Labore der Bundeswehr sowie in Frankreich, Schweden und bei der Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) Nowitschok nach. Die EU verhängte Sanktionen unter anderem gegen ranghohe Kremlfunktionäre.

Nawalny hatte auch ein Telefonat mit einem mutmaßlichen Attentäter geführt, der erklärte, die FSB-Agenten hätten das Gift in seiner Unterhose angebracht, damit es langsam in die Haut eindringe und töte. Zuletzt hatten die russischen Behörden den Druck auf Nawalny erhöht. Erst am Dienstag wurde bekannt, dass ihn die Strafvollzugsbehörde wegen angeblich nicht erfüllter Bewährungsauflage ins Gefängnis bringen möchte.

Die Behörde hatte Nawalny kurz vor dem Jahreswechsel aufgefordert, Auflagen einer früheren Strafe zu erfüllen und sich persönlich zu melden. In dem Fall geht es um eine Verurteilung von 2014. Nawalny schrieb dazu, die Bewährungsstrafe habe am 30. Dezember geendet - und die ganze Welt wisse, dass er in Deutschland behandelt werde.

Zudem gibt es Ermittlungen wegen angeblichen Betrugs. Ihm wird vorgeworfen, zusammen mit anderen Spenden von umgerechnet 3,9 Millionen Euro an seinen Fonds zur Bekämpfung von Korruption für "persönliche Zwecke" verwendet zu haben. Nawalny wies die Anschuldigungen zurück. Seine Attentäter seien verärgert, weil der Mordanschlag gescheitert sei. "Sie tun alles, um mir Angst zu machen", sagte Nawalny in dem Video.

Die Fluggesellschaft Pobeda hat für Sonntag eine Verbindung vom Berliner Hauptstadt-Flughafen BER nach Moskau in ihrem Flugplan. Demnach soll die Maschine um 19.20 Uhr Ortszeit (17.20 Uhr MEZ) auf dem Flughafen Wnukowo landen. Nawalny schrieb dazu: "Trefft mich!". Bei Facebook organisierten sich Hunderte Menschen in Gruppen, um ihn zu empfangen und zu unterstützen.

Für die Bundesregierung sagte Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer: "Wir freuen uns, dass Herr Nawalny in Deutschland sich offenbar gut von dem in Russland gegen ihn verübten Giftanschlag erholt hat." Unter anderem hielt er sich in der Schwarzwald-Gemeinde Ibach auf. "Er ist viel gewandert, er ist viel gejoggt", sagte Bürgermeister Helmut Kaiser (CDU) am Mittwoch der Deutschen Presse-Agentur. Anfang Dezember habe Nawalny die 400-Einwohner-Gemeinde verlassen.

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