Berlin. Erneute Großrazzia gegen Reichsbürger: In Reutlingen erleidet ein SEK-Beamter eine Schusswunde. Der Fall befeuert eine alte Diskussion.

Es ist gegen 6 Uhr am Morgen, als ein lauter Knall die Anwohner rund um die Kreuzung Ringelbachstraße und Peter-Rosegger-Straße in Reutlingen aufschreckt. Sie ahnen nicht, dass die Stadt in Baden-Württemberg an diesem Mittwoch bundesweit in die Schlagzeilen geraten wird. Wenig später ist bekannt: Bei einer Razzia im Reichsbürgermilieu ist ein SEK-Beamter in Reutlingen leicht verletzt worden – durch den Schuss eines Mannes, der sich beim Eintreffen der Einsatzkräfte verschanzt hatte.

Nicht nur Reutlingen steht an diesem Morgen im Fokus der Einsatzkräfte. Im Auftrag der Bundesanwaltschaft durchsuchten Beamte des Bundeskriminalamts und Spezialeinheiten des Bundes und der Länder mehr als 20 Objekte in acht Bundesländern sowie in der Schweiz. Außer in Baden-Württemberg rückte die Polizei auch in Bayern, Niedersachsen, Sachsen, Hessen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen an.

Bei einer Razzia gegen sogenannte
Bei einer Razzia gegen sogenannte "Reichsbürger" führen vermummte Polizisten im Dezember Heinrich XIII Prinz Reuß (2.v.r.) zu einem Polizeifahrzeug. © dpa | Boris Roessler

Weiterer Einsatz gegen Netzwerk um Adeligen Heinrich XIII. Prinz Reuß

Es ist der zweite Großeinsatz der Sicherheitsbehörden gegen Angehörige der Reichsbürgerszene innerhalb weniger Monate: Anfang Dezember war ein Netzwerk um den Adeligen Heinrich XIII. Prinz Reuß ausgehoben worden, die mehr als 50 Beschuldigten der Gruppe sollen einen gewaltsamen Umsturz geplant haben: Sie wollten offenbar eine „Übergangsregierung“ in Berlin einsetzen, einen „Rat“ gründen und einen neuen Staat schaffen.

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Die Zahl der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ wächst. Der Verfassungsschutz schätzte die Szene 2022 auf deutschlandweit etwa 23.000 Menschen, das sind 2000 mehr als im Vorjahr. „Reichsbürger“ lehnen die Bundesrepublik Deutschland und ihre staatlichen Institutionen ab. Sicherheitsexperten beobachten die Szene mit Sorge, befürchtet wird eine zunehmende Radikalisierung.

Grünen-Experte: Schlag gegen wachsende Bedrohung aus dem rechtsextremen Milieu

Auch der Einsatz an diesem Mittwoch steht in Zusammenhang mit den Ermittlungen gegen das mutmaßliche Terrornetzwerk um Heinrich XIII. Prinz Reuß. Der Bundesanwaltschaft zufolge gibt es fünf weitere Beschuldigte, gegen die sich die Razzia richtete. Gegen sie bestehe der Verdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Zudem durchsuchten Einsatzkräfte die Räumlichkeiten von 14 weiteren Personen, die nicht als verdächtig gelten. Unter ihnen sollen ein Polizist und ein Angehöriger der Bundeswehr sein.

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„Die Durchsuchungen im Umfeld der immer größer werdenden Gruppe von Beschuldigten sind erneut ein wichtiger Schlag der Sicherheitsbehörden gegen die wachsende Bedrohung aus dem rechtsextremen Milieu“, sagte der Grünen-Sicherheitsexperte Konstantin von Notz unserer Redaktion. Der Generalbundesanwalt treibe die dringend notwendige Aufklärung weiterhin konsequent voran.

Faeser spricht sich erneut für eine Verschärfung des Waffenrechts aus

Ein Auslöser des Einsatzes waren offenbar unterschriebene Verschwiegenheitserklärungen, die bei der ersten Razzia entdeckt wurden. Zu den Unterzeichnern gehörten nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden mehrere Waffenbesitzer.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) begrüßte das Vorgehen gegen weitere Personen aus dem bekannten Netzwerk. „Wir setzen diese harte Gangart fort, bis wir diese Strukturen vollständig offengelegt und zerschlagen haben“, erklärte Faeser in Berlin. „Keiner in dieser extremistischen Szene sollte sich sicher fühlen.“ Die SPD-Politikerin sprach sich erneut für eine Verschärfung des Waffenrechts aus.

Sicherheit im Bundestag verschärft

Die Razzia im Dezember hatte einerseits eine Diskussion um die Sicherheit des Bundestags ausgelöst, da zu der mutmaßlichen Verschwörergruppe die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann gehört, die als Ex-Parlamentarierin zum Zeitpunkt des Polizeieinsatzes weiterhin Zugang zum Bundestag hatte. Die Zugangsregeln zum Parlament wurden inzwischen verschärft.

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Andererseits begann eine Diskussion darüber, ob das Waffenrecht nachgebessert werden müsse. Unter den im Dezember Festgenommenen waren mehrere legale Waffenbesitzer. Die Debatte bekam neue Dynamik, nachdem am 9. März ein Sportschütze in den Räumen der Zeugen Jehovas in Hamburg sieben Menschen - darunter ein ungeborenes Kind - mit Schüssen aus einer halbautomatischen Pistole getötet und sich danach umgebracht hatte.

Schütze von Reutlingen soll Sportschütze sein

Faeser könnte für ihre Forderung nach einem schärferen Waffenrecht nun neue Unterstützung bekommen: Der Schütze von Reutlingen soll ebenfalls ein Sportschütze und eine Erlaubnis zum Besitz von Waffen haben. Der Mann wurde vorläufig festgenommen, gegen ihn wird ermittelt wegen eines versuchten Tötungsdelikts. Er sitzt in Untersuchungshaft.

Auf der Liste der Ermittler stand er als Zeuge, nicht als Tatverdächtiger. Der Polizist erlitt nach einem Bericht der „Stuttgarter Zeitung“ einen Unterarmdurchschuss.

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Der Schuss auf den SEK-Beamten zeige, wie „brandgefährlich“ die Reichsbürgerszene sei, erklärte Faeser. „Wir haben es nicht mit harmlosen Spinnern zu tun, sondern mit gefährlichen Extremisten, die von gewaltsamen Umsturzfantasien getrieben sind und viele Waffen besitzen.“

Auch für Grünen-Fraktionsvize von Notz führt die Schussverletzung des Polizeibeamten „einmal mehr die massiven sicherheitspolitischen Gefahren vor Augen, die von dieser demokratiefeindlichen Szene ausgehen“. Das verschärfte Sicherheitskonzept des Deutschen Bundestags im Nachgang zur ersten Razzia gegen die Gruppe könne nur ein erster Schritt sein.

„Auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse des Generalbundesanwalts wird es dringend erforderlich sein, weitergehende Maßnahmen einzuleiten, um konsequent gegen Gefahren aus dem extremistischen Milieu vorzugehen.“