London. Schottland sucht eine neue Regierungsspitze. Doch nach dem Rücktritt von Sturgeon ist der Eigenständigkeitstraum erst einmal vorbei.

Nicola Sturgeons Rücktritt Mitte Februar hat die Politik in Schottland gehörig durchgeschüttelt. Es ist das Ende einer Ära – und das vorläufige Ende der schottischen Unabhängigkeit. Sturgeon, seit 2014 Erste Ministerin Schottlands und Chefin der Schottischen Nationalpartei SNP, regierte den nördlichen Landesteil in den vergangenen acht Jahren praktisch uneingeschränkt. Mit Charisma und viel politischem Geschick führte sie ihre Partei von einem Wahltriumph zum nächsten: Die SNP erreichte eine solche Dominanz, dass Kritiker Schottland spöttelnd als „Einparteienstaat“ bezeichneten.

Aber in entscheidender Hinsicht ist Sturgeon gescheitert: Ihre Strategie zur Zerschlagung des Vereinigten Königreichs und der Schaffung eines unabhängigen schottischen Staates lief irgendwann gegen eine Wand. Mit ihrem Abgang ist das Ende der Unabhängigkeitsbewegung vorerst besiegelt – wie der New Statesman schreibt: „Sturgeons Demission war wie ein nasser Fisch, der ins Gesicht des schottischen Nationalismus geschlagen wurde.“

Schottland wollte den Brexit nicht

Dabei hatte es lange Zeit so gut ausgesehen. Die politischen Erschütterungen der letzten zehn Jahre haben der Unabhängigkeitsbewegung immer wieder neuen Auftrieb gegeben. Vor allem der Brexit: Während der endlosen Rangelei um den EU-Austritt in den Jahren nach dem Votum von 2016 konnten sich im überwältigend pro-europäischen Schottland immer mehr Bürger mit der Idee der Eigenständigkeit anfreunden; 62 Prozent der Schotten hatten für den Verbleib in der EU gestimmt. Die Umfragen deuteten auf eine wachsende Unterstützung für die Unabhängigkeit hin.

Der Rücktritt von Nicola Sturgeon war ein schwerer Schlag für die Unabhängigkeitsbewegung Schottlands.
Der Rücktritt von Nicola Sturgeon war ein schwerer Schlag für die Unabhängigkeitsbewegung Schottlands. © AFP | Jane Barlow

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Auch die Tatsache, dass eine überaus fähige Erste Ministerin die Geschicke Schottlands lenkte, half der Bewegung. Was für ein anderes Kaliber Sturgeon im Vergleich zu den Entscheidungsträgern in London war, zeigte sich zum Beispiel in der Covid-Krise. Während Premierminister Boris Johnson gewohnt fahrig auftrat, herumwitzelte und die Pandemie auf die leichte Schulter nahm, ging Sturgeon umsichtig vor, sie kommunizierte kompetent und sachlich. Ihre Umfragewerte schossen in die Höhe, und auch die Zustimmung zur Unabhängigkeit nahm während der Pandemie zu.

Liz Truss sorgte für Auftrieb der Unabhängigkeitsbewegung

Auch das desaströse Interregnum von Liz Truss im vergangenen Herbst stärkte bei vielen Schotten die Sehnsucht nach einem eigenen Staat. Die Premierministerin schaffte es in nur 45 chaotischen Tagen, die britische Wirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs zu führen und den Ruf der Tories dauerhaft zu schädigen.

Gründe, das Vereinigte Königreich zu zertrümmern und einen eigenen Weg zu gehen, gab es also zuhauf für die Schotten; in Umfragen sagten regelmäßig rund 45 Prozent der Bevölkerung, dass sie in einem zweiten Referendum für die Unabhängigkeit stimmen würden.

Ohne grünes Licht von Premierminister Rishi Sunak geht es nicht

Aber am Ende zog die Kampagne der SNP nicht. Das Problem ist die begrenze Entscheidungsgewalt Edinburghs. Denn über Angelegenheiten, die die Konstitution des gesamten Königreichs betreffen, kann die Regierung in Westminster das letzte Wort sprechen. Und diese blockiert seit Jahren ein erneutes Plebiszit. Die erste Abstimmung von 2014, als 55 Prozent gegen die Abspaltung stimmten, habe die Frage für mindestens eine Generation geklärt, sagt sie.

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So zog Sturgeon vor Gericht. Sie bat das Supreme Court in London, zu klären, ob die Regierung in Edinburgh auf eigene Faust ein legales Referendum organisieren dürfe, also ohne die Zustimmung von London. Im November sagte das Gericht: Nein, darf sie nicht. Die schottische Regierung kann also tun, was sie will – ohne grünes Licht von Premierminister Rishi Sunak wird nichts aus dem eigenständigen Schottland.

Wer folgt auf Nicola Sturgeon? Humza Yousaf, bisher Gesundheitsminister, Kate Forbes (Mitte), bisher Finanzministerin, und Ex-Ministerin Ash Regan stellen sich ab Montag zur Wahl. Die Entscheidung fällt am 27. März.
Wer folgt auf Nicola Sturgeon? Humza Yousaf, bisher Gesundheitsminister, Kate Forbes (Mitte), bisher Finanzministerin, und Ex-Ministerin Ash Regan stellen sich ab Montag zur Wahl. Die Entscheidung fällt am 27. März. © AFP | Andy Buchanan

Auch die breitere Bewegung für die Unabhängigkeit hat in den vergangenen Jahren zunehmend ihren Schwung verloren. „Die SNP hat seit 2016 praktisch jedes Jahr gesagt, dass bald ein zweites Referendum kommen werde; das hat zur Folge gehabt, dass viele Aktivisten mittlerweile die Hoffnung aufgegeben haben, dass es der SNP damit ernst ist“, sagt David Jamieson, 35 Jahre alt, der vor zehn Jahren die Radical Independence Campaign (RIC) mitgegründet hat. Dass die Unabhängigkeitskampagne 2014 zu einem enthusiastischen Massenphänomen wurde und viele vormals unpolitische Schotten begeistern konnte, verdankt sich zu einem guten Teil der Kampagne von RIC. Aber diese Bewegung sei jetzt „mehr oder weniger tot“, sagt Jamieson.

Abstimmung am Montag über die Nachfolge von Sturgeon

Auch die drei Kandidatinnen und Kandidaten für die Nachfolge Sturgeons, die ab Montag ums höchste Amt ringen, dämpfen die Erwartungen. Anwärter Humza Yousaf, bisher Gesundheitsminister und ein enger Verbündeter von Sturgeon, räumte ein, dass es „keine konstante Mehrheit für die Unabhängigkeit“ gebe; er sagte, dass „eine Reihe von ehrlichen und offenen Diskussionen mit den Parteimitgliedern“ warten. Neben Yousaf treten noch Kate Forbes und Ash Regan zur Wahl an, beide vom rechten Rand der SNP. Die rund 100.000 Parteimitglieder werden ihren neuen Chef am 27. März bestimmen.

Aber das vorläufige Ende der Unabhängigkeitskampagne bedeutet nicht, dass im Königreich wieder Ruhe einkehren wird und die konstitutionelle Frage vom Tisch ist. Solange das Land von grotesker Ungleichheit zwischen den Regionen geprägt ist, und solange London die politische Entscheidungsgewalt monopolisiert – kaum ein westeuropäisches Land ist so zentralisiert wie das Königreich, solange wird der Wunsch nach Eigenständigkeit in Schottland fortdauern.

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