Berlin. Je aufgewühlter die Zeiten und je feindseliger die Rhetorik, desto unaufgeregter muss der Westen agieren. Der Kanzler macht es vor.

Es sind gespenstische Bilder, die rund um den Jahrestag des Ukraine-Krieges aus Moskau kommen. Ein junger russischer Soldat singt auf der Bühne des Luschniki-Stadions, während im Hintergrund patriotische Lieder ertönen. „Blut wird über den Boden regnen“ und „die helle rote Fahne wird über Berlin wehen“, lautet der Refrain.

Fast zeitgleich verbreitet der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Wassili Nebensja, geschichtsklitternde Kriegslyrik. Der Westen wolle sein Land „zerstückeln und zerstören“, schwadroniert er. „Die deutschen Panzer werden wieder einmal Russen töten.“ Der Krieg gegen die Ukraine sei eine Neuauflage des Kampfes der Sowjetunion gegen die Hitler-Truppen.

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Ukraine: Warum die Russen auf Nazi-Popanz setzen

Die historischen Bezüge entlarven jedoch eher, um was es dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wirklich geht: die Wiederherstellung der UdSSR 2.0. Der Nazi-Popanz dient ihm als ideologische Verbrämung seiner imperialistischen Ziele.

Michael Backfisch, Politik-Korrespondent
Michael Backfisch, Politik-Korrespondent © Reto Klar | Reto Klar

Ein Jahr nach der Invasion in die Ukraine holt der Kremlchef die große nationalistische Keule heraus. Er will zum einen seine Bevölkerung mobilisieren. Die „militärische Spezialoperation“, wie der Eroberungsfeldzug im Nachbarland verniedlichend genannt wird, hat sich eben nicht als Blitzkrieg-Sieg entpuppt. Das schrille Bedrohungs-Szenario offenbart aber vor allem Einkreisungsängste und Paranoia. Beides ist ein Zeichen von Schwäche.

Die Nuklearmacht Russland braucht den starken Arm Chinas

Putin hat durch den Krieg das heraufbeschworen, was er immer verhindern wollte. Der Westen ist einig wie nie. Die Ukrainer zeigen eine Widerstandskraft, mit der er nicht gerechnet hatte. Die nukleare Supermacht Russland ist international isoliert und braucht nun den starken Arm Chinas.

Was bedeutet das für den Westen an der Schwelle zum zweiten Kriegsjahr? Auch wenn die transatlantische Geschlossenheit und das US-Engagement für Europa viele überrascht hat: Für Triumphgebärden gibt es keinen Grund. Klarheit in der Sache, Zurückhaltung im Ton sind erfolgversprechender.

Nur wenn die Ukraine sicher ist, sind auch andere sicher

Es gilt, kühlen Kopf zu bewahren. Die Unterstützung der Ukraine – auch mit Waffen – ist Pflicht. Nur wenn die Ukraine sicher ist, sind auch andere sicher. Kommen die Russen mit einem Anschlag gegen die regelbasierte internationale Ordnung durch, ist niemand mehr gegen Überfälle gefeit. In der Welt würde das Gesetz des Dschungels gelten, ein Paradies für alle Autokraten und Diktatoren. Der Westen sollte für seinen Kurs weltweit werben. Das bedeutet intensive Diplomatie – insbesondere in den kriegsskeptischen Entwicklungs- und Schwellenländern, die gewisse Sympathien für das russische Narrativ haben.

Um es auf eine Formel zu bringen: Der Westen darf nicht besserwisserisch auftreten. Er muss klar kommunizieren und wehrhaft sein – mental, politisch, wirtschaftlich und militärisch. Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich, es gibt keine Ewigkeitsgarantie.

Ukraine-Krieg – Hintergründe und Erklärungen zum Konflikt

Bedächtig, unaufgeregt, berechenbar: Der Kanzler-Stil ist den Zeiten angemessen

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) scheint dies verinnerlicht zu haben. Er hat in den letzten zwölf Monaten zu seiner Rolle gefunden. Er warf den Ballast einer naiven Russlandpolitik („Wandel durch Handel“) ab, die im ganzen Land weit verbreitet war, insbesondere bei den Sozialdemokraten. Mit Blick auf die Waffenlieferungen an die Ukraine wurde Scholz vom Getriebenen zum Handelnden.

Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Die enge Abstimmung mit Amerika sowie den Verbündeten machte im Januar den Weg frei für die Entsendung von Leopard-Kampfpanzern und Marder-Schützenpanzern. Bedächtig, unaufgeregt, berechenbar: Dieser Stil des Kanzlers ist umso angemessener, je aufgewühlter die Zeiten und je feindseliger die Rhetorik. Es ist das richtige Signal nach innen und außen.