Berlin. Botschafter Ahmet Başar Şen über alles, was die Türkei jetzt dringend braucht und warum die Katastrophe auch Gräben überwinden könnte.

Der türkische Botschafter in Deutschland, Ahmet Başar Şen, ist überwältigt von der raschen Unterstützung der Nachbarn und Freunde nach der Erdbeben-Katastrophe in seinem Land. Er hofft, „dass sie anhält“.

Was braucht die Türkei jetzt am Nötigsten?

Ahmet Başar Şen: In Anbetracht der Tatsache, dass wir uns noch in den ersten 48 Stunden nach dem Erdbeben befinden, hoffen wir weiterhin auf die Rettung unserer Bürger unter den Trümmern. Daher benötigt die Türkei am Dringendsten spezialisierte Teams und medizinische Hilfsteams, die sich an Such- und Rettungsmaßnahmen beteiligen können, sowie Notunterkünfte, Medikamente und Sachleistungen. Auch Zelte sind bei diesen Temperaturen überlebenswichtig. Wir wissen, dass auch Materialien wie Generatoren, Heizungen, Decken und Schlafsäcke benötigt werden. Wir brauchen zudem Winterkleidung für Erwachsene und Kinder sowie Medikamente und medizinische Geräte, die bei medizinischen Notfalleinsätzen verwendet werden können. Sie werden vielen Menschen im Erdbebengebiet helfen. In der Tat sind intensive Bemühungen um Sachleistungen im Gange, und der Transport dieses Materials aus anderen Ländern in die Türkei hat oberste Priorität. Wir freuen uns sehr über die Unterstützung unserer deutschen Freunde und hoffen, dass sie anhält.

Der Botschafter der Türkei in Deutschland, Ahmet Başar Şen, sagt, was die Türkei jetzt besonders nötig braucht.
Der Botschafter der Türkei in Deutschland, Ahmet Başar Şen, sagt, was die Türkei jetzt besonders nötig braucht. © picture alliance/dpa | Wolfgang Kumm

Auch Länder mit denen die Beziehungen schwierig sind - wie Griechenland, Schweden, Finnland und Israel – haben Unterstützung zugesagt. Überrascht Sie das?

Şen: In außergewöhnlichen Situationen wie Naturkatastrophen fokussiert sich die internationale Gemeinschaft auf die rasche und effiziente Bewältigung von humanitären Krisen, für die üblichen Meinungsverschiedenheiten in der internationalen Arena bleibt da kein Platz. Dennoch sind wir überwältigt von der raschen Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde in der jetzigen Notsituation. Das türkische Volk ist sehr dankbar für die Hilfe der internationalen Gemeinschaft. Gerade mit Griechenland und Israel verbindet uns eine starke historische Bande der tiefen Freundschaft. Die so genannte griechisch-türkische Erdbebendiplomatie läutete im Sommer 1999 eine Phase der pragmatischen Kooperation ein. Unsere Länder haben auch nach den Erdbeben von 2021 und im Zuge der Waldbrand-Bekämpfung der vergangenen Jahre Hand in Hand zusammengearbeitet.

Deutet das auf Entspannung zwischen der Türkei und Griechenland?

Şen: Dass Griechenland uns nun noch schneller als die meisten anderen Staaten seine Unterstützung anbot, bedeutet dem türkischen Volk sehr viel. Wir alle hoffen nun, nach Bewältigung der Notsituation, auf eine weitere Periode der pragmatischen Zusammenarbeit und des konstruktiven Dialogs unserer beiden Länder. Ich möchte aber diese Gelegenheit auch nutzen, um der deutschen Gesellschaft und Regierung für ihre enge und intensive Solidarität zu danken. In solch schwierigen Zeiten ist es gut zu wissen, dass wir uns auf unsere Freunde in Europa uneingeschränkt verlassen können.

Gibt es eine grenzüberschreitende Hilfe nach Syrien?

Şen: Wir tun wirklich alles Menschenmögliche. Wie Sie wissen, haben wir bereits vor dem Erdbeben umfangreiche humanitäre Hilfe für die Siedlungen im Nordwesten Syriens geleistet. In diesem Zusammenhang leistet die Türkei wie vor dem Erdbeben im Rahmen ihrer Möglichkeiten weiterhin Hilfe sowohl für die syrischen Flüchtlinge, die sie aufnimmt, als auch für die bedürftige syrische Bevölkerung jenseits der Grenze. Wir haben aktuell aber immer noch Schwierigkeiten, unsere eigenen Provinzen in der Grenzregion zu Nordwestsyrien zu erreichen. Die Folgen der Katastrophe sind noch zu groß, zu verheerend. Im Rahmen unserer Möglichkeiten helfen wir aber selbstverständlich, wo wir können.

Wird der Wahlkampf jetzt ausgesetzt?

Şen: In der Türkei wurde eine siebentägige Staatstrauer ausgerufen. Wir haben unsere Flaggen im Land und in unseren Vertretungen in der ganzen Welt auf halbmast gesenkt, wir trauern und bemühen uns, Leben zu retten und zu schützen. Derzeit werden alle unsere Bürger und Institutionen in dieser Richtung mobilisiert. Im Moment kämpfen wir noch mit den unmittelbaren Folgen der Katastrophe. Alles andere steht im Moment hintenan.

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