Berlin/Wutöschingen. Lehrerin Marie-Louise Spitta nahm sich eine Auszeit und besuchte Schulen in ganz Deutschland – auf der Suche nach innovativen Ideen.

An einem Tag steht Marie-Louise Spitta auf dem Grundstück am See. Jugendliche wuseln hin und her, gärtnern mit Schaufeln und Harken, pflegen die Tiere, bauen Gemüse an, hacken Holz. Es ist Unterricht in einer siebten und achten Klasse, an einer Montessori-Schule in Potsdam. Aber es ist anders, als Spitta Schule kennengelernt hat.

Auf dem Grundstück sind nicht nur die Klasse und die Lehrkräfte, eine Gärtnerin und ein Zimmermann helfen beim Unterricht. Die Kinder beackern nicht nur den Garten, sie sollen in dieser Zeit draußen auch einen Markt vorbereiten, ein Angebot ausarbeiten, Preise festlegen. Die Ware wollen sie am Ende verkaufen.

Die Kinder müssen miteinander kooperieren, Entscheidungen treffen, die Arbeit einteilen

Einmal im Monat kommen die Schülerinnen und Schüler für eine Woche hier an den See. Klar, erstmal habe sie gedacht, ok, jetzt machen die Kids hier den Tag über nur Quatsch. Aber es kommt ganz anders. „Das Beeindruckende war, dass jedes der Kinder der eigenen Arbeit sehr viel Bedeutung zugemessen hat. Die Kinder mussten miteinander kooperieren, Entscheidungen treffen, die Arbeit einteilen, Aufgaben verteilen“, sagt Spitta heute.

Der Besuch bei der Schule in Potsdam und im Garten war Etappe einer Reise, die Spitta durch ganz Deutschland gemacht hat. Ziemlich direkt nach ihrem Lehramtsstudium hat sie ein „Sabbatjahr“ genommen, ein Jahr Auszeit. Viele machen das, manche reisen um die Welt, andere mit dem Camper nach Griechenland, verbringen Zeit mit ihrer Familie.

Alles waren öffentliche Schulen, keine Privatschulen. Das war Spitta wichtig

Spitta aber machte sich auf den Weg in deutsche Klassenzimmer, besuchte fünf Schulen in Deutschland, verbrachte jeweils einige Wochen dort, sah sich verschiedene Unterrichtsformen an, sammelte Ideen, Erfahrungen, Eindrücke, und sie führte darüber Protokoll. So wie ein Tischler nach der Lehre auf die Walz geht, machte Spitta eine Walz auf der Suche nach dem besten Unterricht. Alles waren öffentliche Schulen, keine Privatschulen. Das war Spitta wichtig.

Marie-Louise Spitta mit einem ihrer Schüler. Sie nennt sich „Lernbegleiterin“, statt klassischen Klassenzimmern gibt es „Atelier“ und „Marktplatz“.
Marie-Louise Spitta mit einem ihrer Schüler. Sie nennt sich „Lernbegleiterin“, statt klassischen Klassenzimmern gibt es „Atelier“ und „Marktplatz“. © Philipp von Ditfurth | Philipp von Ditfurth

Im Garten der Potsdamer Schule hat Spitta vor allem eines gelernt. Das sehr freie Unterrichten habe gezeigt, wie Kinder Verantwortung für das Lernen selbst übernehmen. Eine Freiheit, die Mut erfordert von einer Schule in einem System, in dem Unterricht noch immer in der Regel in einem Klassenzimmer passiert: Lehrer vorne, Schüler in Sitzreihen davor, dann Mathe, Deutsch, Bio.

Eine Trennung, die Deutschlands Bildungspolitik stärker aufbrechen sollte, findet Spitta. Denn so sei doch auch der Alltag, auf denen die Menschen nach der Schule treffen. „Ein wildes Zusammenleben ganz unterschiedlicher Menschen und Interessen, etwa Kaufleuten, Polizistinnen, Ingenieuren, Sozialarbeitern.“ Es ist eine dieser Lehren aus ihrer Reise.

Idealismus – oft zerrieben im Alltag des Frontalunterrichts

Die Idee für ihre Reise kam Spitta während ihres Studiums. Sie habe mit Leidenschaft Pädagogik studiert. Doch dann prallte diese Energie auf die Wand des deutschen Bildungssystems. „Auch viele angehende Lehrerinnen und Lehrer kennen Schule immer noch als ein System aus Noten und vorgegebenen Lernstrukturen. Ich selbst fühlte mich nach dem Studium gefangen in einem Karussell aus: bewerten, Note geben und dann Haken hinter“, sagt Spitta. Ihre Angst sei gewesen, dass ihr „Idealismus“ im Alltagsunterricht zerrieben werde. Also beschloss sie: Raus aus diesem Alltag.

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Kaum ein Bereich der Gesellschaft wird so emotional diskutiert wie die Schule. Viele haben selbst Kinder im Unterricht, jeder hat es selbst erlebt. Jahrzehntelang wurde in der deutschen Bildungspolitik viel reformiert. Reformen scheitern jedoch auch immer wieder, an der nötigen Mehrheit in der Politik, an mangelnden Fachkräften, und auch der Föderalismus zerreibt Ideen für neue Konzepte.

Nicht immer ist ein „Bildungsexperiment“ das richtige für das Kind

Lehrpläne bilden noch immer ein Korsett, von dem jede fundamentale Abweichung eine Debatte auslösen kann. Selbst viele Lehrkräfte klagen über die Trägheit des deutschen Schulsystems, würden gerne innovativer arbeiten. Und bleiben doch oft am Alltag im Klassenraum kleben.

Experimente gibt es meist eher an Privatschulen, oft ausgestattet mit viel Geld potenter Eltern. Aber auch dort sind die Ergebnisse nicht immer Bildungsspitze. Und nicht immer ist ein „Bildungsexperiment“ das richtige für das Kind. Jedes Kind ist verschieden. Und für manche können Starrheit und klare Struktur in Unterricht, Hausarbeit, Noten der richtige Weg sein.

Wie innovativ kann Unterricht sein? Oftmals fehlen Schulen Fachkräfte, oftmals scheitern Reformen.
Wie innovativ kann Unterricht sein? Oftmals fehlen Schulen Fachkräfte, oftmals scheitern Reformen. © Philipp von Ditfurth | Philipp von Ditfurth

Bis heute streiten Fachleute darüber, wie guter Unterricht geht. Ob es dafür Noten braucht. Wie digital Mathe, Deutsch oder Englisch vermittelt werden sollen. Wer gefördert werden soll. Und was eigentlich genau. Und Lehrkräfte probieren mehr aus, arbeiten mit den Kindern und Jugendlichen in Projektarbeiten, binden auch externe Fachkräfte etwa für Medientraining ein.

Auf ihrer Reise besucht Marie-Louise Spitta auch ein Hochbegabten-Gymnasium in Sachsen. Eine Schule in einem alten Gebäude mit schwerem Mauerwerk. Anbei ein Weinberg, den manche der Kinder mit bewirtschaften. Vormittags, so lernt Spitta bei ihrem Praktikum an dem Gymnasium, läuft der Unterricht im „Fundamentum“, eher klassisch, frontal, in den Regelfächern. Dort schreiben die Schülerinnen und Schüler reguläre Klassenarbeiten.

„Gelingensnachweise“ statt Klassenarbeiten, „Atelier statt Sitzreihen

Nachmittags beginnt das „Additum“, ein Wahlbereich, in dem die Kinder aussuchen können, was sie interessiert: Philosophie, Kunst, Musik, Chemie, alles möglich. In diesen Wahlfächern läuft der Unterricht freier ab, erzählt Spitta. Die Jugendlichen lesen ein Buch über eine ethische Frage, streiten darüber. Andere drehen ein Musikvideo, andere basteln ein Vulkanmodell und organisieren einen „TED-Talk“, ein innovatives Debattenformat. „TED“ ist Englisch und steht für Technologie, Unterhaltung, Design.

Spittas Reise fiel mitten in die Corona-Pandemie. Manche Etappe musste sie straffen, andere Besuche von Schulen, die sie spannend fand, fielen ganz aus. Ihr Sabbatjahr stand auf der Kippe. Und doch passt es irgendwie zum Sound von Marie-Louise Spitta, dass sie das Beste aus einem Corona-Sabbatical gemacht hat. Einfach losreisen, bisschen improvisieren, einfach machen – wer mit ihr spricht, hört diese Begeisterung an Neuem auch noch heute.

Mittlerweile unterrichtet Spitta an der Gemeinschaftsschule in Wutöschingen, am südlichsten Zipfel Baden-Württembergs. Und eigentlich ist Spitta gar keine „Lehrerin“, sondern „Lernbegleiterin“. Der Alltag von Lehrplan, Unterricht, Klassenarbeiten ist hier aufgebrochen. Es gibt keine Noten, sondern „Gelingensnachweise“.

Bildungspolitik: Der Raum als dritter Pädagoge

Es gibt keine Klassenzimmer, sondern „Lernateliers“, in denen die Kinder eigene Arbeitsplätze haben, erzählt Spitta. Dort tragen die Schülerinnen und Schüler Hausschuhe, laufen auf Teppichboden. „Ich habe auf meiner Walz gelernt, wie entscheidend der Raum für das Lernen ist. Viele Schulen unterschätzen das, vertrauen noch zu sehr dem klassischen Aufbau: Tafel, Lehrerpult, Tische in Reihen aufgestellt. Diese Schularchitektur sollten wir durchbrechen. Der Raum ist der dritte Pädagoge“, sagt Spitta. Und auch die Schulstunde hat hier nicht festgenagelte 45 Minuten.

Klassenzimmer mit Frontalunterricht, Hausarbeiten und Noten – noch immer das prägende Modell an deutschen Schulen.
Klassenzimmer mit Frontalunterricht, Hausarbeiten und Noten – noch immer das prägende Modell an deutschen Schulen. © dpa | Annette Riedl

Neben den Lernateliers gibt es an ihrer Schule noch „Marktplätze“, dort können Jugendliche gemeinsam lernen. Es gibt den „Input-Raum“ mit einer digitalen Tafel, wo Lehrkräfte auch mal klassisch frontal Stoff vermitteln können, Mathe oder Englisch erklären. Und es gibt „Coaching-Räume“ für das vertrauliche Gespräch der „Lernbegleiterin“ mit den Kindern. Mehr als auf „Leistungen“ achtet die Schule auf „soziale Kompetenzen“, will, dass Schüler Verantwortung übernehmen, Regeln einhalten, sich für die Gemeinschaft engagieren.

Es ist noch nicht lange her, da stand die damalige Schule in der Gemeinde im Schwarzwald vor dem Aus, die Schließung drohte. Heute hat die Schule mit ihrer Architektur und dem Klassenkonzept schon Preise gewonnen, gilt als Vorzeige-Modell, bekommt oft Besuch von interessierten Lehrern anderer Schulen. Jüngst schrieb eine große deutsche Zeitung vom „Schulwunder von Wutöschingen“.

„In der Regel sind alle immer gehetzt: die Lehrkräfte, die Kinder, die Behörde“

Die junge Lehrerin Marie-Louise Spitta passt sehr gut in diesen Geist von Wutöschingen. Sie sagt, dass Schule auch „ein neues Verständnis für Zeit“ brauche. „In der Regel sind alle immer gehetzt: die Lehrkräfte, die Kinder, die Behörde, die Schulpolitik. Wir brauchen eine Entschleunigung der Bildung.“ Ohne Druck, mit Zeit für Vertiefung lernen Menschen besser, davon ist sie überzeugt.

Am Nachmittag eröffnet die Schule „Clubs“, dort können die Kinder und Jugendlichen mehrere Stunden einem Thema widmen. „Das entschleunigt und gibt Lernenden und Lehrenden mehr Möglichkeiten in der Gestaltung der Lernprozesse als in einem 45-Minuten-Takt“, sagt Spitta. Kennengelernt hat sie die Schule in Wutöschingen übrigens auf ihrer Sabbatjahr-Reise, sie war eine ihrer Stationen auf der Suche nach dem guten Unterricht.