Berlin. Faeser will Ministerin bleiben – und gleichzeitig einen Wahlkampf in Hessen gewinnen. Wer ist die Politikerin, die nun hoch pokert?

Es gibt verschiedene Typen von Politikerinnen und Politikern. Den „Aktenfresser“ zum Beispiel, der zu einem Vorgang alles selbst liest. Der lieber bis spät in der Nacht im Büro sitzt als beim Stammtisch oder am Info-Stand. Der frühere Innenminister Thomas de Maizière ist so ein Typ. Es gibt den „Parteisoldat“, der bestens vernetzt ist in seinem politischen Umfeld, in den Gremien, im Machtapparat Ministerium. Annalena Baerbock ist bei den Grünen so ein Typ.

Und da ist der Typ Politiker, der sich gerne „unter die Leute mischt“, oft unterwegs sein will, „draußen“. Nancy Faeser, 52 Jahre alt, verheiratet, ein Sohn, ist so eine.

Nancy Faeser: Politikerin im Supermarkt und auf Streife

Dieses Bild von sich bekräftigt sie immer wieder. Auch jetzt, wo sie ihre Kandidatur für den hessischen Wahlkampf bekannt gibt. Sie erzählt, wie sie als Politikerin auch schon im Supermarkt geholfen hat, wie sie Pflegekräfte begleitet hat. Jemand, der Faeser gut kennt und schätzt, sagt: „Wahrscheinlich gibt es keine Innenministerin, die öfter auf Streife mit der Polizei war.“

Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in ihrem Ministerium im April 2022.
Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) in ihrem Ministerium im April 2022. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

März 2022, wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges, ist Faeser wieder unterwegs. Mit dem Regierungsflieger in Richtung Polen, Grenzgebiet zur Ukraine. Seit Wochen fliehen Hunderttausende vor den russischen Angriffen, Europa ist im Ausnahmezustand. Faeser will zu den Menschen, die nun kommen. In einem Tross von Polizisten, Journalisten und Regierungsbeamten läuft sie auf dem Asphalt des Grenzübergangs bei Rzeszow.

Zelte sind hier aufgebaut, Helfer verteilen Essen und Trinken, Frauen mit Kindern, bepackt nur mit einem Rucksack oder einem Rollkoffer, warten auf den Weitertransport. Faeser geht zu den Geflüchteten, zu den Helfern, schüttelt Hände, wechselt ein paar Worte, nickt interessiert.

Das erste Jahr im Amt hat Faesers Potenzial, aber auch ihre Risiken offengelegt

Dann aber muss sie weiter. Für ein echtes Gespräch bleibt keine Zeit, der Terminplan ist eng getaktet. Der Bus zur Weiterfahrt wartet. Noch ein freundliches Lächeln zum Schluss, dann Tür zu. Faeser war an diesem Tag bei den Menschen vor Ort, richtig nah war sie ihnen nicht.

Wer oft draußen ist, ist viel bei den Wählerinnen und Wählern. Wer viel unterwegs ist, ist aber auch seltener im Ministerium, seltener in den Runden mit den Abteilungsleitungen und Fachreferaten. Der Politiker-Typ „Draußen“ baut Energie von der Kommandobrücke vor Ort auf – und hat doch Angriffsflächen im Maschinenraum. Das erste Jahr im Amt der Innenministerin hat Faesers Potenzial, aber auch ihre Risiken offengelegt.

Noch vor gut einem Jahr, als Kanzler Scholz sein Ampel-Team vorstellte, kannten nur wenige abseits von Wiesbaden Nancy Faeser. Dort betrieb sie 30 Jahre Politik in Kommune und Landtag, war Innenexpertin der SPD, Fraktionschefin, bis heute ist sie dort Landesvorsitzende. In die Bundespolitik kam sie neu. Als erste Frau überhaupt an der Spitze des Innenministeriums.

Hessen, Friedewald: Nancy Faeser kommt zum „Hessengipfel“ der Sozialdemokraten. Faeser tritt bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober 2023 als SPD-Spitzenkandidatin an.
Hessen, Friedewald: Nancy Faeser kommt zum „Hessengipfel“ der Sozialdemokraten. Faeser tritt bei der hessischen Landtagswahl am 8. Oktober 2023 als SPD-Spitzenkandidatin an. © dpa | Boris Roessler

Ein gutes Jahr führt sie nun eines der wichtigsten Regierungsressorts durch einen Ausnahmezustand in den nächsten: Krieg, Massenflucht und Energiekrise. Und deshalb stellt sich für den Faeser-Typ des Politikers vor allem eine Frage: Lässt der Terminplan noch mehr zu? Als Spitzenkandidatin in Hessen erwarten die Wähler jetzt genauso viel Leidenschaft für den öffentlichen Personennahverkehr, die Grundschul-Politik und fehlende Bademeister wie für die Flüchtlingskrise.

Die Entscheidung zur Kandidatur zog sich Wochen hin, eigentlich Monate. Über Weihnachten hat Faeser dann offenbar ihren Plan geschmiedet. Erst Mitte dieser Woche soll es das entscheidende Gespräch zwischen ihr und dem Kanzler gegeben haben. Scholz gab ihr offenbar das „Go“ für Hessen – und ein Rückfahrt-Ticket: Wenn sie nicht Ministerpräsidentin in Hessen wird, darf sie Innenministerin in Berlin bleiben. Stand jetzt. Doch bis Herbst ist noch viel Zeit.

Scholz und Faeser verstehen sich bei der Innenpolitik gut: polizeinah, aber kein Hardliner

Die Entscheidung von Scholz zeigt zweierlei: Nach dem plötzlichen, aber kaum noch abwendbaren Rücktritt von Verteidigungsministerin Lambrecht im Januar hat Scholz weder Personal noch Interesse für eine erneute Kabinettsumbildung. Und zugleich: Er schätzt Faesers Arbeit als Innenministerin, die beiden ticken in der Sicherheitspolitik ähnlich. Eher polizeinah, aber doch kein Hardliner.

Faesers Kandidatur hallen Lob, aber auch Fragen und Kritik nach. Sogar von einzelnen Abgeordneten aus der Ampel-Koalition, wie dem Grünen-Innenexperten Konstantin von Notz. Laut einem Bericht des Spiegels soll es nach der Entscheidung für die Doppelrolle auch SPD-intern hier und da rumoren. Öffentlich aber schießt kein Sozialdemokrat dieser Tage gegen Faeser. Im Gegenteil.

Ministerin Faeser an der polnisch-ukrainischen Grenze, wo sie Geflüchtete aus der Ukraine besucht und sich ein Bild von der Lage macht.
Ministerin Faeser an der polnisch-ukrainischen Grenze, wo sie Geflüchtete aus der Ukraine besucht und sich ein Bild von der Lage macht. © AFP | LOUISA GOULIAMAKI

Kritik kommt vor allem von der Opposition. Der rechtspolitische Sprecher der Union im Bundestag, Günter Krings, sieht drei Baustellen für Faeser: „Zum einen stellt sich schon die Frage, wie gut sie aufgrund der Belastung das ohnehin anspruchsvolle Amt der Innenministerin ausfüllen kann“, sagt Krings unserer Redaktion. Zum anderen sei das Signal an die Wählerinnen und Wähler in Hessen „kein gutes, wenn sie den Wahlkampf über die meiste Zeit in Berlin im Ministerium ist“. Und drittens beschädige es „politisches Vertrauen, wenn eine Spitzenkandidatin im Fall einer Niederlage nicht im Landtag in die Opposition gehen will“.

Krings war selbst viele Jahre Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesinnenministerium. Er nennt es ein „Krisenreaktionsministerium“. „Da weiß man abends oft nicht, was am nächsten Morgen die Lage ist.“ In Krisenlagen müsse der Minister oder die Ministerin „schnell reagieren, schnell vor Ort sein, schnell Entscheidungen treffen“. Alles ist viel weniger planbar als im Bildungsministerium oder dem Umweltressort. Auch Wahlkampf-Termine.

Nancy Faeser sagt: Hessen sei ihre „Herzensangelegenheit“

Schon jetzt pendelt Faeser. Ihr Mann und der Sohn, der 2015 geboren ist, leben in Hessen. Faeser hat eine Mietwohnung in Berlin. Am Wochenende sei sie oft zuhause in der Heimat, sagen Menschen in ihrem Umfeld. Sie lässt gerne ihre Fußball-Expertise einfließen, ist Fan der Frankfurter Eintracht, Hessen sei ihr eine „Herzensangelegenheit“.

Faeser sagt auch, es seien „ernste Zeiten“, zu ernst für Wahlkampf. Erst spät, vielleicht in den letzten Wochen vor der Wahl, wird sie überhaupt einsteigen können in das Infostand-Wettrennen mit ihrer Konkurrenz. Und dann wohl eher am Wochenende.

Da ist es schlau, den Wahlkampf noch wegzuschieben. Nur werden andere Wahlkämpfer eben genau das auch nutzen. Vor allem, wenn sie parallel kein Ministerium mit 2000 Bediensteten und Sicherheitsbehörden mit Zehntausenden Mitarbeitern führen müssen.

SPD-Politikerin Faeser im Amt: Am Anfang war viel Misstrauen im Ministerium

Faeser kann aber zugleich mit dem Ministeramt Regierungserfahrung vorweisen, die sie in der hessischen Opposition nie hatte. Ein Jahr ist sie nun in Berlin im Amt. Ein Jahr, in dem sie sich entwickelt hat, sagen einige, die sie kennen.

Am Anfang war viel Misstrauen. Wohl vor allem weil das Innenministerium als „schwarz“ und „konservativ“ gilt, viele Legislaturperioden in CDU-Hand war, und Faeser mit einer klaren Agenda, einem klaren Auftrag kam: Kampf gegen Rechtsextremismus.

November 2020. Nancy Faeser, damals neu gewählte Landesvorsitzende der SPD Hessen, lacht von der Bühne in Richtung Landesparteitag-Plenum.
November 2020. Nancy Faeser, damals neu gewählte Landesvorsitzende der SPD Hessen, lacht von der Bühne in Richtung Landesparteitag-Plenum. © dpa | Swen Pförtner

Zugleich sendete der Koalitionsvertrag für viele Beamte in den Sicherheitsbehörden anfangs nicht unbedingt Vertrauen aus. Viel steht dort von „Evaluierung“ der Arbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, von Überprüfung und Kontrolle der Befugnisse. „Als würde die Polizei aus Prinzip gegen Unschuldige vorgehen“, sagt der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), Dirk Peglow, unserer Redaktion heute. Er kennt Faeser gut, Peglow ist auch hessischer BDK-Chef.

Faeser und der „Apparat“ fremdelten am Anfang, heißt es. Und Faeser baute einen Zirkel an Führungspersonal um sich herum auf, in dem einige bisher weniger mit Innenpolitik zu tun hatten. Eine Staatssekretärin kam aus dem Umweltministerium, eine andere aus dem Familienministerium. Ein Zirkel an Vertrauten – vielleicht auch als Schutz vor einem vermeintlich „schwarzen“ Ministerium, das Faeser noch nicht gut kannte. Noch nicht gut einschätzen konnte.

In der Hektik vor Ort passieren Ausrutscher – wie neulich in Brokstedt

Personalien bereiteten ihr ohnehin Probleme im ersten Jahr. Die wichtige Stelle des Migrations-Staatssekretärs blieb lange unbesetzt. Der Sonderbeauftragte für Migration ebenso. Und für den von Faeser geschassten Chef der Cyberabwehrbehörde BSI ist auch Monate danach noch kein Nachfolger benannt.

Auch heute sagt einer im Ministerium, dass ihre Ministerin sehr sympathisch sei, sehr informiert und interessiert, wenn sie „denn mal zu packen“ sei. Dass sie weniger oft die Expertise aus der Fachebene suche wie manch ein Vorgänger, ist auch zu hören. Dass sie vorbildhaft versuche, Familie und Karriere zu vereinbaren. Aber eben auch: dass sie „viel unterwegs“ ist.

So wie neulich in Brokstedt, Schleswig-Holstein, als ein Mann aus Palästina zwei junge Menschen in einem Regionalzug mit einem Messer tötete. Faeser reiste hin, brachte Blumen und Worte des Beileids mit. Es sind starke Auftritte in Ausnahmesituationen, sie wirken ehrlich, was nicht allen Politikern gelingt.

Faeser bekommt mittlerweile viel Lob – auch aus Verfassungsschutz und Polizei

Doch in der Hektik einer Innenministerin, die oft Großlagen managt, in denen die Ermittler noch nach Motiven und Tathergang erforschen, rutschen der Ministerin manchmal Sätze raus, die irritieren. In Brokstedt fragt sie in die Mikrofone, wie es sein könne, dass der Täter noch im Land sei. Und nicht abgeschoben.

Manch einer in den Sicherheitsbehörden war über die Aussage verwundert. Schließlich sind es neben den örtlichen Ausländerbehörden die Innenbehörden, die Bundespolizei und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die ganz maßgeblich dafür zuständig sind, dass straffällige Ausländer abgeschoben werden. Faesers Leute, also. Und der Palästinenser, ein „Staatenloser“, ist für Fachleute ein Fall, bei dem die Chance auf eine Abschiebung gegen null geht.

Dezember 2021, Berlin. Nancy Faeser (SPD), damals noch designierte Bundesministerin des Innern, im Kreis der anderen Ministerinnen und Minister im Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz.
Dezember 2021, Berlin. Nancy Faeser (SPD), damals noch designierte Bundesministerin des Innern, im Kreis der anderen Ministerinnen und Minister im Kabinett von Bundeskanzler Olaf Scholz. © dpa | Michael Kappeler

Trotz dieser Ausrutscher war das erste Ministerin-Jahr doch auch eine Annäherung zwischen „Apparat“ und „Führung“. Faeser bekommt mittlerweile viel Lob – auch von den Chefs von Verfassungsschutz und Polizei, auch von den mächtigen Gewerkschaften. „Was ich jetzt sehr positiv wahrnehme im Amt der Bundesministerin, ist eben dieser Einsatz für die Polizei“, sagt BDK-Chef Peglow. Auch dem Misstrauen, das aus dem Koalitionsvertrag wuchs, habe Faeser „entgegengewirkt“. Peglow: „Sie mischt sich ein, sucht etwa bei der Vorratsdatenspeicherung auch die Konfrontation mit dem Koalitionspartner FDP, setzt sich für eine Bargeld-Obergrenze in Deutschland ein, was aus Sicht der Kriminalpolizei enorm sinnvoll im Kampf gegen Geldwäsche ist. Das alles zeigt: Sie hat große Affinität zur Arbeit der Polizei, in Hessen wie im Bund.“

Ihren Twitter-Account widmet Faeser kurzerhand um – und macht dort auch Wahlkampf

Und das zeigt auch, dass die Töne von Faeser heute andere sind als zu Beginn ihrer Amtszeit. Auch nach den Krawallen in der Silvesternacht fand sie Worte, die deutlich robuster den Rücken der Polizei decken. Worte, wie sie CDU-Innenminister nicht groß anders formulieren würden. Worte, die auch schon ein wenig nach Wahlkampf klangen.

Ab jetzt geht Faeser den schmalen Grat zwischen Ministeramt und Hessen-Wahlkampf. Regierungsarbeit und Parteiarbeit – zwei anspruchsvolle Rollen, die sie genauso sauber trennen wie vereinen muss. Wie schwer das ist, zeigt ihr erster Tag. Auf Twitter folgen ihr fast 150.000 Nutzer. Ihr Profil als Innenministerin hat sie kurzerhand erweitert. Dort steht nicht mehr nur „Bundesministerin“, sondern nun auch „Landesvorsitzende SPD Hessen“. Aus der Opposition kommt prompt Kritik, sie widme gewinnbringend ihr Ministerprofil zur „privaten Wahlkampf-Seite“ um.