Berlin. Der Solidaritätszuschlag wird nur noch von wenigen bezahlt, ist aber weiter umstritten. Jetzt könnte er bald für alle Geschichte sein.

Ein Großteil der Beschäftigten konnte vor zwei Jahren mehr Netto vom Brutto auf dem Gehaltszettel verzeichnen: Der umstrittene Solidaritätszuschlag war für 90 Prozent der Beschäftigten weggefallen.

Ein Jahr, nachdem der sogenannte „Solidarpakt II zur Finanzierung der Kosten der Deutschen Einheit“ ausgelaufen war, war der Soli für rund 33 Millionen Beschäftigte damit Geschichte. Aber: 10 Prozent der Beschäftigten müssen seitdem weiter auf ihre Einkommens- oder Körperschaftsteuer die Abgabe, die ursprünglich die Infrastruktur der neuen Bundesländer finanzieren sollte, entrichten.

Doch damit könnte bald Schluss sein. Ab Dienstag verhandelt der Bundesfinanzhof in München über den Soli. Geklagt hatte ein Ehepaar aus Bayern, das zu den zehn Prozent gehört, die nach wie vor zahlen müssen. Der Bund der Steuerzahler (BdSt) nutzt das Verfahren nun als Musterklage. Er hält die Abgabe für verfassungswidrig und möchte dies gerichtlich klären lassen.

Soli-Entscheidung von Lindner: SPD und Grüne verärgert

Hinter der rein rechtlichen Frage steckt aber auch eine politische Debatte – und die sorgt für Misstöne in der Bundesregierung. So hat Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) gerade verfügt, dass sein Haus den Soli nicht mit einem eigenen Vertreter in dem Gerichtsverfahren verteidigt – anders als sein Amtsvorgänger, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Anfang 2021 verfügt hatte. Das habe Lindner dem Bundesfinanzhof mit Schreiben vom 11. Januar mitgeteilt, heißt es aus dem Finanzministerium.

Der Finanzminister und seine Partei treten für die vollständige Abschaffung des Solidaritätszuschlags ein. Wie Lindner zum Soli stehe, sei bekannt, sagte ein Ministeriumssprecher unserer Redaktion. Die Abschaffung sei „nicht nur ökonomisch richtig, sondern auch politisch geboten“. Mit ihrer Forderung konnten sich die Liberalen in den Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen aber nicht durchsetzen.

Kritik an Lindners Entscheidung kommt von der SPD. Der Rückzug sei zumindest „ungewöhnlich“, sagte Michael Schrodi, finanzpolitischer Sprecher der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion, unserer Redaktion. „Ich hätte mir gewünscht, dass es eine stärkere Trennung zwischen Parteivorsitz und Finanzminister gibt“, so Schrodi weiter. Er erwarte, „dass geltendes Bundesrecht vor dem obersten Finanzgericht auch vom zuständigen Bundesfinanzministerium vertreten wird.“

Die finanzpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Katharina Beck, zeigte sich ebenfalls irritiert über Linders Entscheidung: „Es hat uns überrascht, dass Christian Lindner vom bisherigen Kurs abweicht und keinen Vertreter des Finanzministeriums in die mündliche Verhandlung schickt“, sagte sie dieser Redaktion.

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Umwidmung des Soli nur unter Vorbehalt?

Als sogenannte „Ergänzungsabgabe“ auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer muss der Soli sachlich begründet werden. Mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung könnte diese Begründung aber hinfällig sein, argumentieren das bayerische Ehepaar und der Steuerzahlerbund. „Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II hat der Soli auch seine letzte Legitimation verloren“, sagte Steuerzahlerbundpräsident Reiner Holznagel unserer Redaktion. Dass das Finanzministerium aus dem Verfahren zurücktrete, nannte er „ein starkes politisches Signal“.

Der Bundesfinanzhof schreibt in seinen Informationen zum Verfahren: „Sollte die verfassungsrechtliche Rechtfertigung für die Erhebung der Ergänzungsabgabe weggefallen sein, stellt sich die weitere Frage, ob andere Gründe die Erhebung ab dem Jahr 2021 rechtfertigen.“ Als denkbare Ursachen für einen „erhöhten Finanzbedarf“ des Bundes nennt das Papier die Folgen der Coronapandemie, den Ukraine-Krieg und den Kampf gegen die Klimakrise. Eine solche „Umwidmung“ könne jedoch unter „Parlamentsvorbehalt“ stehen, also ein vorheriges Votum des Bundestages notwendig machen.

Laut SPD-Finanzexperte Schrodi hätten mehrere Gutachter bei Anhörungen in der Vergangenheit erklärt, dass der Soli auch nach Ablauf des Solidarpaktes II weiter verfassungsrechtlich legitimiert sei. Wolle man den „handlungsfähigen Staat“ erhalten, seien niedrigere Steuereinnahmen nicht zu verkraften – gerade angesichts der Krisen und bevorstehender Investitionen. Auch Grünen-Vertreterin Beck sieht keinen Raum für weniger Einnahmen des Bundes. „Unabhängig vom Soli ist die größere Beteiligung stärkerer Schultern an den Kosten der Krise eine wichtige Zielsetzung, die uns nicht zuletzt auch die Wirtschaftsweisen mit auf den Weg gegeben haben“, sagte sie.

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Voller Soli-Satz wird ab 9700 Euro im Monat fällig

Das Gesamtaufkommen aus dem Soli beziffert der Bundesfinanzhof mit derzeit rund elf Milliarden Euro. Singles zahlen ihn 2023 ab einem monatlichen zu versteuernden Bruttoeinkommen von etwa 6600 Euro teilweise und ab etwa 9700 Euro in voller Höhe von 5,5 Prozent. Für Paare liegen diese Grenzen deutlich höher. Das Ehepaar, das die Klage führt, hatte beim zuständigen Finanzamt eine Herabsetzung des Soli auf null Euro beantragt und dann vor dem Finanzgericht Nürnberg geklagt. Dieses senkte die Vorauszahlungen zwar, wies die Klage aber ansonsten ab.

Die Revision liegt nun beim Bundesfinanzhof. Entscheidet er, dass der Soli in seiner jetzigen Form verfassungswidrig ist, muss er das Bundesverfassungsgericht anrufen. Gelangt Deutschlands höchstes Finanzgericht zur gegenteiligen Ansicht, können die Kläger Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht einlegen. Die Entscheidung wird noch in diesem Monat erwartet.