Berlin. In den düsteren Ecken des Internets etablieren sich Subkulturen. Sie haben eigene Sprachen, vernetzen sich – und verherrlichen Gewalt.

Einige Monate vor dem amerikanischen Nationalfeiertag postet der junge Mann wieder ein Video auf Youtube, eine Collage flackernder Bilder. Von ihm selbst, von einer Zeichentrick-Figur, die ein Gewehr trägt. Eine andere Figur wird von einer Kugel getroffen. „Ich weiß, was ich zu tun habe“, sagt die Stimme des Mannes aus dem Off.

Am 4. Juli tötet der 21 Jahre alte Täter sieben Menschen und verletzt Dutzende schwer. Während einer Feiertagsparade schießt er von einem Hausdach in die Menge auf der Straße in Highland Park, nahe Chicago. Noch immer fahnden die Ermittler nach dem Motiv der Tat.

In den Tagen danach tauchen Bilder auf, die den jungen Mann bei einer Demonstration von Trump-Fans zeigen. In dem Video mit den Comic-Figuren prangt ein gezacktes Schleifenquadrat, ein Zeichen, das an nationalsozialistische Symbolik erinnert.

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Menschen gedenken der Opfer des Anschlags in Highland Park. Ein Täter hatte mit einer Schnellfeuerwaffe mehrere Menschen bei einer Straßenparade getötet.
Menschen gedenken der Opfer des Anschlags in Highland Park. Ein Täter hatte mit einer Schnellfeuerwaffe mehrere Menschen bei einer Straßenparade getötet. © AFP | Jim Vondruska

Spätere Täter posten gewaltverherrlichende Inhalte

Zugleich gibt sich der spätere Täter auf seinen Social-Media-Kanälen einen Aliasnamen, er nennt sich „Awake“, der Aufgeweckte, ein Begriff, der immer wieder unter Verschwörungsideologen auftaucht, die sich selbst als „aufgeweckt“ bezeichnen, und eine angebliche „Verschwörung durchschaut“ haben wollen. War der Highland-Park-Täter ein Rechtsextremer?

Manches spricht dafür, einiges dagegen. So zeigt das Profilbild des 21 Jahre alten Schützen einen „Catboy“ im Katzenlook mit Kampfmontur und Maschinenpistole. Er interessiert sich offenbar für gewaltverherrlichende Inhalte etwa von „School shootings“ in den USA, postet Hip-Hop-Videos, äußert auch Suizid-Fantasien.

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Vor allem aber zeigt der Fall von Highland Park: Klassische Extremismus-Kategorien greifen bei der Radikalisierung junger Amoktäter und Attentäter oft nicht mehr. In Foren, Chatgruppen, Online-Kanälen haben sich Subkulturen etabliert, in denen sich Szenen mischen: Verschwörungsideologen, extreme Rechte, amokaffine Täter, Gewaltverherrlicher, Frauenhasser. Und immer wieder wurde bekannt, dass Attentäter im Vorfeld der schweren Straftaten Bezug zu diesen Szenen hatten. Täter wie der 21-Jährige bedienen sich aus allen Szenen. Genau in seiner Unklarheit ist der Fall typisch. Eine Art extremistischer Eklektizismus.

Chaos und Gewalt als Strategie: „Akzelerationismus“

Ein neonazistischer Telegram-Kanal verherrlicht die Tat am 4. Juli als Etappe im „beschleunigten Zusammenbruch dieser Gesellschaft“. Es ist ein Kanal rechter Akzelerationisten. Der Begriff kommt aus dem Englischen „accelerate“, beschleunigen. Ursprünge hat die Bewegung in der anti-kapitalistischen Philosophie und Popkultur. Die Idee: Die technologische Hochgeschwindigkeit des „Kapitalismus“ so zu überdrehen, dass das „System“ sich am Ende selbst zerstört.

Rechte Vordenker haben das Motto aufgegriffen – und in ihre menschenfeindliche Ideologie eingebettet. Der gewaltbereite Akzelerationismus will durch einen „globalen rassistischen Bürgerkrieg“ die Demokratie ins „Chaos“ stürzen – und später einen Staat der „weißen Herrenrasse“ errichten.

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Gruppen wie die „Atomwaffen Division“ gehören dieser Bewegung an. Und im Prinzip war auch der Dschihadismus des „Islamischen Staates“ eine brutal beschleunigte Form islamistischer Gewalt – einschließlich einer popkulturellen „Vermarktung“ des Terrors in unzähligen Propaganda-Videos.

Das Social-Media-Profil des Highland-Park-Täters weist nach Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung Bezüge in diese krude Gedankenwelt auf. Individuell paart die Ideologie der Akzelerationisten Gewalt gegen Minderheiten, Frauen und Migranten mit selbstzerstörerischen Fantasien und übersteigertem Narzissmus.

Frauen aus Feindbild: „Incels“

Fast immer sind die Täter Männer – bei Amokläufen, bei terroristischen Anschlägen. Und immer wieder taucht in den Äußerungen der Straftäter Frauenhass auf. Bei der Bewegung, die sich selbst als „Incels“ bezeichnen, ist diese Verachtung gegen Frauen Fluchtpunkt der Ideologie. „Incels“ steht für die englische Abkürzung für: unfreiwillig im Zölibat Lebende. „Incels“ betrachten sich als die „größten Verlierer“, da sie „genetisch“ eine „Niete“ gezogen hätten und zu unansehnlich fühlen, um von Frauen beachtet zu werden, schreibt die Autorin Veronika Kracher, die ein ganzes Buch über die Ideologie geschrieben hat.

Schuld an der „Misere“ sind nicht die Männer, die in der verachtenden Gedankenwelt ein „Recht auf Sex“ besitzen würden. Schuld sind demnach die Frauen. In Chatforen befeuern sich Anhänger der „Incel“-Bewegung massenhaft mit frauenfeindlichen Bildern, Karikaturen, Videos, Parolen. Die Männer zelebrieren zugleich ihren Selbsthass und ihre angebliche eigene subkulturelle „Überlegenheit“.

Tödliche Tat am Campus der Universität in Heidelberg im Januar. Handelte der Täter auch aus frauenfeindlichen Motiven?
Tödliche Tat am Campus der Universität in Heidelberg im Januar. Handelte der Täter auch aus frauenfeindlichen Motiven? © dpa | R.Priebe

Und manche schlagen zu. Vom Hass angestachelt ermordet ein junger Mann 2015 sechs Menschen in Kalifornien aus „Rache“ für sein Leben ohne sexuelle Kontakte. 2018 tötete ein weiterer Mann 2018 in Toronto elf Menschen. Auf Facebook postete er zuvor: „Die Incel-Rebellion hat begonnen!“

Das rechtsterroristische Attentat in Halle in Sachsen-Anhalt 2019 zeigt, wie der Frauenhass der „Incels“ in eine klassische politische Ideologie greifen kann. Bei dem Anschlagsversuch auf die Synagoge beruft sich der Täter auf verschiedene Lieder und Sprachregelungen der „Incels“ – zugleich ist für ihn wie für viele andere der Feminismus das Feindbild, und verantwortlich für das eigene Scheitern. Mit dem Feminismus eng verknüpft wird dann zugleich ein Hass auf alles Liberale und Kosmopolitisch – am Ende auch auf Juden, die „hinter allem stecken“.

Sinnlosigkeit und Menschenverachtung: „Deep Nihilism“

Attentäter, gerade wenn sie sich in Subkulturen radikalisieren, entfremden sich zunehmend von der Mehrheitsgesellschaft, ziehen sich zurück in die krude Online-Welt, isolieren sich sozial – ein Verhalten, das schon vor der Bedeutung der digitalen – vor allem anonymisierten – Welt in vielen Täterprofilen sichtbar wurde.

Doch nach Ansicht von Fachleuten können Online-Foren dieses Zurückziehen wie ein Sog verstärken, Menschen würden in ihrer Tatneigung etwa durch Kommentare von anderen Nutzern angestachelt, sagt die Kriminologin Britta Bannenberg, die seit Jahren zu Amoktaten forscht. Die Online-Welt funktioniert wie eine „Echokammer“, Hass und Hetze werden immer lauter. Bis daraus Taten folgen.

Mit dieser Entfremdung in die Online-Welt muss aber keine ideologische Radikalisierung einhergehen, in die der Täter flüchtet. Stattdessen: ein übertriebener Nihilismus. Statt positive Weltbilder zu entwerfen, regiert das Gefühl der Sinnlosigkeit – gepaart mit Menschenverachtung. Der Highland-Park-Täter postete zerstörerisch wirkende Szenerien von toten Menschen, sterbenden Menschen – eine morbide Ästhetik, aber keine erkennbare politische Stoßrichtung.

Die Tür der Synagoge in Halle. Ein Rechtsterrorist hatte versucht, die Gemeinde in Sachsen-Anhalt zu attackieren. Als er an der Tür scheiterte, tötete er zwei andere unschuldige Menschen. Der Täter hat sich online radikalisiert.
Die Tür der Synagoge in Halle. Ein Rechtsterrorist hatte versucht, die Gemeinde in Sachsen-Anhalt zu attackieren. Als er an der Tür scheiterte, tötete er zwei andere unschuldige Menschen. Der Täter hat sich online radikalisiert. © dpa | Heiko Rebsch

Potenzielle Opfer werden entmenschlicht, das Mitgefühl mit ihnen wird gezielt unterwandert. Es ist eine Lossagung von dem realen Leben, forensische Psychiater würden hier möglicherweise schizophrene Auffälligkeiten diagnostizieren. Auf Online-Plattformen hat diese Szene eigene Formate für diesen „Deep Nihilism“, den tiefgreifenden Nihilismus, entworfen: etwa in „Schizowave“, oftmals eine in grelle, hyperaktive Videos gegossene Welt der Aggressionen.

Wächst eine neue Täter-Generation heran?

Nun ließe sich zugespitzt formulieren, dass der Täter von Highland-Park ein Neonazi-Catboy-Akzelerationist mit Hang zu Schizophrenie und Menschenhass ist. Um sich selbst noch weniger greifbar zu machen, hinterlässt der Mann kein „Manifest“, in dem er seine Motive erklärt. Allen zugänglich macht er dagegen sein „digitales Erbe“, eine Sammlung an Online-Profilen, Accounts auf Plattformen, einschließlich Kommentaren, Beiträgen und selbstproduzierten Videos. Es ist Teil einer Verherrlichung schwerer Straftaten.

Dabei nutzen die Subkulturen in ihren Chatforen und Online-Kanälen ihre eigene Sprache und ihre eigenen Codes, oft in eine Art Karikatur gegossen, sogenannte „Memes“, in denen bewusst offen gehalten wird, wie ernst Gewaltfantasien gemeint sind – oder wie ironisch.

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Der Autor Roland Sieber, der rechtsterroristische Gruppen seit Jahren vor allem im Online-Raum beobachtet, sieht die Gefahr einer „modernen Version der seit Jahrzehnten immer wieder zu beobachtenden Überschneidung zwischen Amokszene und rechtsextremer Szene“. Es gebe international vernetzte „Fan-Szenen“ von Amoktätern, Terroristen, aber auch von politischen Attentätern. „Und es gibt Mischszenen“ aus allen drei Bereichen, sagt Sieber.

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Und noch etwas ist zentral: Fachleute heben hervor, dass psychische Kränkungen, Narzissmus oder Hass gegen Minderheiten oder Frauen schon immer eine zentrale Rolle für Motive bei Gewalttaten oder Anschläge gespielt haben – lange bevor sich Online-Chatforen von „Incels“ oder „Akzelerationisten“ etabliert haben.

Das Bundeskriminalamt stellt seit vielen Jahren mehrere Gewalttaten und versuchte Körperverletzungen durch Männer gegen ihre Partnerinnen oder Ex-Partnerinnen fest. Und die Autorin Kracher hält fest, dass 1989 ein Mann in Montreal 14 Studentinnen in „einem explizit antifeministischen Angriff“ tötete.

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der hohen Nachahmerquote berichten wir in der Regel nicht über Suizide oder Suizidversuche, außer sie erfahren durch die Umstände besondere Aufmerksamkeit. Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Selbstmordgedanken leiden oder Sie jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 oder im Internet auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei, Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.