Shanghai. Millionen Bürger in Shanghai sind seit einem Corona-Ausbruch eingesperrt. Warum die Stadt für Chinas Regierung bedrohlich sein könnte.

In blauen Ganzkörperanzügen dringen die Seuchenschutzarbeiter in den Hausflur ein. Kurz darauf karren sie zu viert eine gebrechliche Seniorin auf die Straße hinaus. Diese schreit wie wild, als stünde ihr Leben auf dem Spiel. Doch keiner der Nachbarn kommt der Chinesin zur Hilfe. Sie wird – wie alle Infizierten Shanghais – in eine zentralisierte Quarantäneeinrichtung abgeführt.

Was harmlos klingt, ist tatsächlich ein menschenunwürdiges Bettenlager, in dem Tausende Covid-Patienten vor sich hin vegetieren. „Wie Nutzvieh“ ist eines der Schlagwörter, die man zuhauf aus solchen Einrichtungen hört.

Essensübergabe am Zugang zu einem abgesperrten Wohnviertel: Seit Ende März ist der Großteil der 26 Millionen Bewohner Shanghais in seinen Wohnungen eingesperrt.
Essensübergabe am Zugang zu einem abgesperrten Wohnviertel: Seit Ende März ist der Großteil der 26 Millionen Bewohner Shanghais in seinen Wohnungen eingesperrt. © AFP | HECTOR RETAMAL

Shanghai: Infektionszahlen trotz Lockdown konstant hoch

In sozialen Medien dokumentieren immer mehr Shanghaier die Schattenseiten des Viruskampfs, der in Chinas größter Metropole zunehmend radikal ausgefochten wird. Seit Ende März ist der Großteil der 26 Millionen Bewohner Shanghais in seinen Wohnungen eingesperrt, praktisch sämtlicher Freiheiten beraubt. Nur zum täglichen Massentest dürfen sie hinaus auf die Straße.

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Doch trotz des flächendeckenden Lockdowns liegen die Infektionszahlen weiterhin konstant bei etwas über 20.000 pro Tag. Am Montag schließlich verkündeten die Behörden die ersten drei Virustoten der jüngsten Covid-Welle: Senioren, ungeimpft und vorerkrankt. Doch die offiziellen Zahlen sind längst nur mehr als grober Indikator zu werten, denn unzählige Covid-Tote tauchen in den Statistiken schlicht nicht auf – darunter allein ein Dutzend Verstorbene aus einem Shanghaier Altenheim.

Corona in Shanghai fordert "Kollateralschäden"

Die „Kollateralschäden“ der Lockdown-Kaskaden können nur geschätzt werden, doch auch sie steigen mit jedem Tag. In einer Wohnsiedlung in Shanghai haben die Anwohner auf weißen Bannern die Toten aufgelistet, die sie in ihrer Nachbarschaft zu beklagen haben. Sie sind nicht am Virus gestorben, sondern an den radikalen Ausgangssperren: von Asthma- und Krebspatienten, die wegen des Ausgangsverbots nicht rechtzeitig ins Krankenhaus kamen, bis hin zu den gestiegenen Suiziden der Verzweifelten. Bei Chinas „Null Covid“-Strategie ist die angebliche Lösung längst zum Problem geworden. „Ich habe ein Herzleiden – wenn ich also plötzlich Hilfe brauche, bin ich nicht sicher, ob ich diese rechtzeitig kriegen kann“, sagt Rain Kuang, eine junge Chinesin in Shanghai.

Shanghai: Ein Ende der Maßnahmen ist nicht in Sicht

Die besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen hingegen haben tatsächlich ein hohes Risiko. Wie die Behörden am Montag bekannt gaben, sind unter den über 60-Jährigen in Shanghai nur 38 Prozent vollständig geimpft. Damit der chinesische Impfstoff – der einzig zugelassene im Land – seine Wirkung gegen Omikron jedoch entfalten kann, braucht es unbedingt einen Booster. Und selbst dann besteht die Gefahr, im Falle einer Infektion schwere Symptome zu entwickeln – laut einer aktuellen Studie aus Singapur ist das Risiko rund fünfmal so hoch wie bei den mRNA-Vakzinen von Biontech und Moderna.

Dennoch ist die Geduld der Shanghaier längst am Ende, die Ausgangssperren weiter hinzunehmen. Anwohner berichten von Nahrungsmittelengpässen und einer katastrophalen Kommunikation der Regierung. Diese hat schließlich einen stadtweiten Lockdown zunächst kategorisch ausgeschlossen, später dann auf angeblich vier Tage begrenzt. Mittlerweile sind mehr als drei Wochen vergangen – und die Bewohner weiterhin auf unbestimmte Zeit eingesperrt.

Nur zum täglichen Massentest dürfen die eingesperrten Bewohner ­hinaus auf die Straße.
Nur zum täglichen Massentest dürfen die eingesperrten Bewohner ­hinaus auf die Straße. © Getty Images | Kevin Frayer

Shanghai offenbart Mängel der chinesischen Corona-Politik

Auch der langjährige Shanghai-Bewohner Frank Tsai, der mit „China Crossraods“ eine Plattform für kulturellen Austausch leitet, hält die jetzige Situation für einen „Wendepunkt“. Chinas Erzählung, dass das eigene System besser beim Kampf gegen das Virus sei, stehe auf der Kippe. Die Regierung werde schließlich anhand ihrer „Performance“ bewertet.

Doch diese schaut derzeit mies aus. Angesichts der eskalierenden Lage und der wachsenden Kritik in den sozialen Medien deutet viel darauf hin, dass die Zentralregierung unter großem Druck steht. Schließlich lautet der stillschweigend akzeptierte Gesellschaftsvertrag in China: Die Bevölkerung gibt ihre politischen Rechte an die Kommunistische Partei ab, erwartet aber im Gegenzug, dass diese das Land kompetent führt und die Lebensbedingungen der Menschen stetig verbessert.

Staatsfernsehen beschönigt Corona-Lage in Shanghai

Was diese Gleichung nicht miteinrechnet, ist der dystopische Zensurapparat, den der Staat aufgebaut hat: Die Bürgerinnen und Bürger sind von einem freien Informationsfluss abgeschnitten, wütende Postings in sozialen Medien werden in Windeseile wieder gelöscht.

Stattdessen werden die Chinesen von manipulativen Berichten der Staatsmedien zugedröhnt: Diese übertreiben die Verbreitung des Virus im Ausland, während sie die Lage im eigenen Land auf absurde Weise beschönigen. Der Fernsehsender CCTV zeigt in seinen Nachrichtensendungen über Shanghai nicht das Leid der Bevölkerung, sondern einkaufende Leute zwischen gut gefüllten Supermarktregalen – wohlwissend, dass die meisten Leute in Shanghai ihre Apartments nicht verlassen können.