Berlin. Die Corona-Lage wird immer schlimmer. Trotzdem gibt es Streit um neue Regeln. Das ist völlig fehl am Platz, findet Miguel Sanches.

Die Infektionslage ist ernst. Ihr angemessen wäre ein schnelles, entschlossenes Krisenmanagement, politisch austariert, zwischen Bund und Ländern abgestimmt. Diesem Anspruch wurde schon das Vorspiel zur Ministerpräsidentenkonferenz nicht gerecht. Seit Beginn der Pandemie war die Politik noch nie so schlecht – und von diesem harschen Urteil kann man fast keinen ausnehmen.

Vergangene Woche wurden erstmals 50.000 positive Corona-Tests an einem Tag gezählt, am Donnerstag waren es bereits 65.000. Das sieht nach einem exponentiellen Anstieg aus, zumal RKI-Chef Lothar Wieler von einer „Untererfassung“ spricht – und das Ausmaß der Neuinfektionen doppelt so groß sein könnte.

Die Corona-Pläne der Ampel gehen nicht weit genug

Miguel Sanches, Politik-Korrespondent der Funke Mediengruppe
Miguel Sanches, Politik-Korrespondent der Funke Mediengruppe © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Die Handlungsempfehlungen der Ampel-Parteien werden nicht zu einer Trendumkehr führen. Mobiles Arbeiten kommt nur für Bürojobs infrage. 3G in Betrieben ist irrelevant für 25 Millionen Rentner oder für Arbeitslose. Die Zahlen gehen erst runter, wenn die Menschen ihre Kontakte radikal reduzieren. Entweder tun sie das freiwillig. Oder weil sie keine Wahl haben.

Es ist falsch, dass SPD, FDP und Grüne für diesen Winter die Möglichkeit verbaut haben, als Ultima Ratio bestimmte Geschäfte zu schließen oder Veranstaltungen zu verbieten. Die Maßnahmen kommen zu spät und werden nicht reichen. Viele Leute im Gesundheitsweisen fragen sich wie Wieler, wie es nur so weit kommen konnte.

Die Corona-Pläne der Union erinnern an Glücksspiel

Davon lenkt die Frage ab, ob die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ ausläuft. Eine Alarmstufe ist für sich genommen noch kein Garant für richtiges Handeln, überhaupt für Taten. Umgekehrt kann man jede Maßnahme ergreifen, ohne die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ auszurufen.

An diesem Punkt – an Symbolik – setzen die Unionsparteien ihre Kritik an, „ihre“ Länder drohten sogar damit, deshalb das gesamte Infektionsschutzgesetz zu Fall zu bringen. Was für eine Logik? Weil wir die Maßnahmen nicht für ausreichend erachten, wird nichts beschlossen.

Das ist eine Denke, die man eigentlich aus dem Glücksspiel kennt: alles oder nichts. In der Politik ist das eine waghalsige Haltung und im Zusammenhang mit dem Corona-Krisenmanagement mehr als das, nämlich verantwortungslos.

Wo man hinschaut: parteipolitische Spielchen. Statt alle an einen Tisch zu bringen, auch die geschäftsführende Regierung und die Unionsparteien, haben SPD, FDP und Grüne das weitere Vorgehen bestimmt. Die Reihenfolge war eine Machtdemonstration, die in dieser Phase – politisch eine Übergangszeit, epidemisch eine Notlage – überflüssig war. Man muss hier leider für die Ampel-Parteien eine Vermisstenanzeige aufgeben – gesucht, weil verloren, wird: Demut.

Wenn wir jetzt nicht handeln, gibt es nächstes Jahr die gleiche Diskussion

Aus erzieherischen Gründen haben praktisch alle Verantwortlichen monatelang den Eindruck erweckt, ein Piks bringe jedem die Normalität zurück. Das ist aber nur eine Scheinsicherheit. Die Impfung schützt, sie ist empfehlenswert. Jedoch wäre es trügerisch zu glauben, dass sich Geimpfte nicht infizieren und das Virus nicht weitergeben können. Für den Virologen Hendrik Streeck war der Begriff der Pandemie der Ungeimpften nie richtig. Die Staaten in Europa, die für ihre hohen Impfquoten zu Recht gelobt werden, verzeichnen in den letzten sieben Tagen ebenfalls deutliche Anstiege.

Man kann nicht in jedem Winter Geschäfte schließen und Veranstaltungen verbieten. Das würde zu einer Vernichtung von Existenzen führen und die Volkswirtschaft ruinieren. Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben. Das heißt: Vorsichtsmaßnahmen hochhalten, das Impfen (und die Auffrischung) besser organisieren und das Gesundheitssystem ausbauen. In jedem Herbst die gleiche Panik-Diskussion zu führen, untergräbt das Vertrauen in die Politik.