Altenahr/Brüssel. Im Ahrtal macht nach der Flut der Winter Sorgen. Die Bundesregierung legt derweil eine Rekord-Schadensrechnung des Hochwassers vor.

Zerstörte Dörfer, eingestürzte Brücken, weggebrochene Straßen: Auch vier Monate nach der Flutkatastrophe am 14. und 15. Juli sind im Ahrtal die Spuren der Verwüstung allgegenwärtig. Die Bahnstrecke das Tal hinauf ist durch das Hochwasser über Nacht verschwunden, die extremen Wassermassen haben 20 Kilometer Gleis weggespült.

Die Straße führt teilweise über Schotterpisten und provisorische Brücken in Dörfer, die mitunter einen noch trostloseren Eindruck machen als unmittelbar nach der Flut: Links und rechts der Ahr entkernte Häuser im Rohbauzustand, die aussehen wie verlassene Ruinen, daneben türmen sich riesige Schutthalden mit schlammigen Bauabfällen.

In vielen Häusern laufen Trockengeräte, es riecht nach Moder und Öl. „Man erkennt manche Orte nicht wieder“, sagt die Altenahrer Bürgermeisterin Cornelia Weigand, zu deren Verbandsgemeinde ein Dutzend zum Teil schwer getroffene Dörfer gehören. Das Rathaus ist zerstört, Weigand musste in ein ehemaliges Hotel umziehen.

Bundesregierung rechnet mit Rekord-Schadenssumme

Es gibt erste Hoffnungszeichen: Die Trinkwasserversorgung im Tal ist wiederhergestellt, auch die Gasleitungen funktionieren weitgehend, 15 Behelfsbrücken sind gebaut, Schlamm und Kies auf Straßen und in Häusern sind größtenteils beseitigt - auch durch ein Heer von insgesamt über hunderttausend freiwilligen Helfern aus ganz Deutschland und sogar dem benachbarten Ausland, die für ein paar Tage oder viele Wochen mit anpackten.

Aber Weigand sagt: „Aus den ersten Sprintkilometern nach der Flut wird ein Marathon - wir sind erst bei Kilometer fünf.“ Erst in vier bis fünf Jahren, schätzt die Bürgermeisterin, sei „das Gröbste geschafft“, die Wiederherstellung der Bahnstrecke aber könne eher zehn Jahre dauern. Der Aufbau wird viel Zeit brauchen. Und sehr, sehr viel Geld kosten. Nicht nur im Ahrtal.

Inzwischen ist klar, dass die Flutkatastrophe vor allem im Westen Deutschlands nicht nur etwa 180 Todesopfer gefordert, sondern auch eine Rekordsumme an Sachschäden verursacht hat: Auf gigantische 29,2 Milliarden Euro beziffert die Bundesregierung nach Informationen unserer Redaktion jetzt den Gesamtschaden - etwa dreimal so viel wie bei den Überschwemmungen 2002 oder 2013, mit Abstand die teuerste Naturkatastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik. Das Ergebnis der Schadenserhebung von Bund und Ländern hat das Bundesfinanzministerium bereits an die EU-Kommission gemeldet, als Teil eines Antrags auf Finanzhilfen aus einem EU-Solidaritätsfonds für Unterstützung nach Naturkatastrophen.

Abends herrscht gespenstische Stille

Etwas mehr als die Hälfte der Schäden entfallen auf Rheinland-Pfalz und hier vor allem auf das Ahrtal, mehr als 40 Prozent auf Nordrhein-Westfalen, ein kleiner Teil auf Sachsen und Bayern. In Altenahr wird allein der Aufbau der kommunalen Infrastruktur über eine Milliarde Euro kosten, sagt Gemeindechefin Weigand. Hinzu kommen die privaten Schäden.

In Dernau etwa, das zur Verbandsgemeinde gehört, sind 90 Prozent der Häuser vom Hochwasser beschädigt oder zerstört, die Mehrzahl der 1700 Einwohner lebt erstmal in Ausweichquartieren außerhalb des Ortes. Es gibt keinen Lebensmittelladen mehr, keinen Bäcker, keine Kneipe. Abends herrsche eine gespenstische Stille, berichten Anwohner. Das nahe Altenburg, eine der am schwersten verwüsteten Ortschaften, gleiche einem „Geisterdorf“, sagt die Bürgermeisterin.

Die freiwilligen Helfer, ohne die vor allem beim Aufräumen und Entkernen der Häuser nicht viel auszurichten gewesen wäre, sind weniger geworden. Ihre Leistung wird überall im Ahrtal gelobt. „Wer den Glauben an die Menschheit verloren hat, der sollte ins Ahrtal kommen“, sagt etwa der Ahrweiler Winzer Peter Kriechel über die vielen Ehrenamtlichen, die auch bei der Weinlese mit anpackten. Jetzt allerdings werden händeringend dauerhafte Fachkräfte gesucht. Aber Heizungsbauer, Fliesenleger, Elektriker sind kaum zu finden. Dabei naht der Winter, und tausende Haushalte sind noch ohne Heizung.

Die Flutkatastrophe überfordert den EU-Hilfsfonds

Seit Ende September können die Bewohner des Ahrtals Anträge für den Wiederaufbau ihrer Häuser und einen Ersatz des zerstörten Hausrats stellen. Mindestens 3000 Gebäude sind schwer beschädigt oder zerstört. Zugesagt ist hier wie in den anderen Hochwassergebieten ein schnelles Verfahren mit wenig Bürokratie. Bund und Länder haben den „Fonds Aufbauhilfe 2021“ aufgelegt, maximal 30 Milliarden Euro kann er zur Schadensbeseitigung und für den Wiederaufbau finanzieren.

Die EU hat nach der Flutkatastrophe ebenfalls schnell ihre Hilfe angeboten. Der EU-Solidaritätsfonds könne auch für Deutschland einen Teil der Kosten übernehmen, verkündete Krisenschutz-Kommissar Janez Lenarcic im August. Der Fonds im Umfang von 1,3 Milliarden Euro jährlich war schließlich genau für solche Zwecke eingerichtet worden, als Reaktion auf die extremen Hochwasser 2002 in Deutschland, Österreich und Tschechien.

Doch die Schäden des Juli-Hochwassers 2021 sprengen offenbar den Rahmen des Solidaritätsfonds, Brüssel hat mehr versprochen hat als es halten kann. Fünf im Juli heimgesuchte Mitgliedstaaten haben bei der Kommission jetzt Anträge auf Fluthilfe gestellt, wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in einem unserer Redaktion vorliegenden Schreiben an den Grünen-Europaabgeordneten Rasmus Andresen berichtet.

Allein Deutschland könnte theoretisch zwischen 1 und 1,5 Milliarden Euro erwarten, Belgien möchte nach Angaben seiner Regierung bis zu 185 Millionen Euro, die Niederlande sprechen von 300 Millionen Euro, auch Österreich und Luxemburg hoffen auf EU-Geld. Aber die Fonds-Mittel für dieses Jahr sind bis auf einen Restbetrag von 40,7 Millionen Euro bereits ausgegeben oder verplant, wie aus Kommissionsdokumenten hervorgeht.

Kritik aus dem Parlament: „Schwer auszuhalten, dass EU nicht helfen kann“

Haushaltsexperte Andresen sagte unserer Redaktion: „Es ist ein schwer auszuhaltender Zustand, dass die EU den Menschen in den von der Flut im Sommer betroffenen Ländern immer noch nicht helfen kann. Obwohl wir jetzt schon seit Monaten wissen, dass die Kassen für die Fluthilfe leer sind, hat sich an der Situation nichts geändert.“

Von der Leyen spricht in dem Brief an Andresen von einer „starken Belastung“ des Fonds - und rechnet vor, dass das Geld vor allem deshalb knapp ist, weil aus dem Katastrophenhilfstopf unter anderem 400 Millionen Euro als Corona-Hilfen ausgegeben wurden; die Regularien waren dafür eigens geändert worden. Es würden alle möglichen Optionen prüfen, damit der Fonds weiter Mitgliedstaaten nach schweren Naturkatastrophen helfen und Solidarität zeigen könne, verspricht von der Leyen. In der Kommission wird aber vorsorglich betont, Zeitpunkt und Höhe der Zusagen an die fünf Hochwasser-Länder würden sich nach der Verfügbarkeit der Mittel richten.

Andresen fordert, die EU-Mitgliedstaaten müssten jetzt für den EU-Haushalt 2022 mehr Geld zur Verfügung stellen: „Gerade vor dem Hintergrund, dass wir wegen des Klimawandels mit mehr Naturkatastrophen rechnen müssen, ist es unabdingbar, dass wir den EU-Solidaritätsfonds mit genügend Mitteln ausstatten.“ Ebenso wichtig wäre Anteilnahme. Als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Mitte Oktober das von der Flut schwer getroffene Ahrweiler besuchte, versprach er den Bewohnern der Region: „Wir werden euch nicht vergessen.“

Sein Besuch und seine Zusage kamen gut an bei den Betroffenen. Von der Leyen reiste nach den Juli-Überschwemmungen zwar in die Katastrophenregion in Belgien. Aber bis ins Ahrtal oder in die Flutgebiete im Rheinland hat es noch niemand aus der EU-Kommission geschafft.