Berlin. Mit 98,5 Prozent stützen die Grünen ihr Spitzenteam. Baerbock ist Kanzlerkandidatin – und stellt klar, wer der Wahlkampf-Gegner ist.

Das Insekten-Hotel ist noch lange nicht fertig, als es wieder in der Kulisse des Grünen-Parteitags verschwindet. Das Moderatoren-Duo, das die Wartezeit während der Online-Abstimmungen überbrückt, hatte als Teil des Programms angefangen, aus Bambus-Röhrchen und Dosen das Hotel zu bauen, brach allerdings schnell wieder ab. "Annalena kommt ja heute Nachmittag", erklärte Moderator Marco Ammer. Und weil die dann nicht in den Spänen des Bastel-Projekts sitzen sollte, verlagerten er und Co-Moderatorin Ninia Binias die weiteren Arbeiten in den Backstage-Bereich.

Auf Annalena haben sie alle gewartet bei diesem Online-Parteitag der Grünen. Bis zum Nachmittag des zweiten Tages hatte sich die Kanzlerkandidatin nämlich rar gemacht beim Delegierten-Treffen. Während Co-Parteichef Robert Habeck und andere Parteimitglieder aus der ersten und zweiten Reihe die seit Freitagabend laufende Programm-Debatte prägten, hatte Annalena Baerbock sich zurückgehalten. Habecks Rede am Freitagabend hatte sie aus der ersten Reihe verfolgt, aber nicht öffentlich kommentiert.

Entsprechend gespannt warteten die 100 Neumitglieder, die eingeladen waren, die Rede vor Ort in Berlin-Kreuzberg zu verfolgen, und die rund 800 Delegierten an den Bildschirmen, wie sich die Kandidatin hier präsentieren würde. Denn Baerbock war zuletzt in die Defensive geraten. Hatte ihre Nominierung der Partei zunächst ein historisches Hoch in den Umfragen beschert und die Grünen kurzfristig sogar vor die Union katapultiert, kam der Absturz schnell, nachdem nachgemeldete Einnahmen und Ungenauigkeiten im Lebenslauf bekannt wurden.

Parteitag der Grünen: Baerbocks letzte Entschuldiung

Dass sie Fehler gemacht habe – "über die ich mich tierisch geärgert habe" – räumte Baerbock zu Beginn ihres Auftritts ein, und bedankte sich für den Rückhalt ihrer Partei. Doch jetzt, das wurde danach klar, ist sie damit fertig, sich zu entschuldigen. Im Laufe der mehr als halbstündigen Rede präsentierte sie die Grünen als Partei, die Politik weit über ihre ursprüngliche Zielgruppe hinaus macht, und dafür Anspruch auf das Kanzleramt erhebt.

Im Zentrum der Rede stand dabei der Klimaschutz, nicht als Gegensatz, sondern als Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg in der Zukunft, wie Baerbock unterstrich. Das Ziel sei es, "klimagerechten Wohlstand" zu schaffen, erklärte sie. "Eine neue soziale Marktwirtschaft ist eine sozial-ökologische Marktwirtschaft." Das Abwenden der Klimakrise sei "die große Aufgabe unserer Zeit".

In ihrer Rede vor dem Grünen-Bundesparteitag stellte Baerbock klar, wo der Gegner im Wahlkampf steht
In ihrer Rede vor dem Grünen-Bundesparteitag stellte Baerbock klar, wo der Gegner im Wahlkampf steht © dpa | Kay Nietfeld

Gleichzeitig betonte sie, dass die Partei Verständnis habe für die Situation von Menschen in ländlichen Regionen, die ohne Auto nicht mobil sind, oder Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die den Umbruch auf dem Weg zur Klimaneutralität fürchten. Auch ihnen werde man Vorschläge für Sicherheit im Übergang machen.

"Wo ich aber nicht mitmache", sagte Baerbock, "ist bei einer Politik, der immer wieder ausgerechnet in dem Moment, wo es um Klimaschutz geht, einfällt, dass in unserem Land auch Menschen mit einer kleinen Rente leben oder Menschen im Niedriglohnbereich arbeiten." Niemand hindere schließlich die Union daran, den Mindestlohn auf 12 Euro anzuheben.

Annalena Baerbock: Der Hauptgegner steht fest

Der Hauptgegner im Wahlkampf ist damit noch einmal deutlich markiert: Die Grünen gegen CDU und CSU, Veränderung gestalten gegen Veränderung unkontrolliert passieren lassen, das war die Botschaft der Kandidatin am Sonnabend. 40 Jahre lang hätten sich die Grünen darauf vorbereitet – "jetzt ist der Moment unser Land zu erneuern", sagte Baerbock.

Dass sie das Vertrauen ihrer Partei für diese Aufgabe hat, war schon vor der Rede der Kandidatin klar. Vor dem Parteitag hatte sie noch gesagt, 100 Prozent Zustimmung würden es "hoffentlich" nicht werden – das würde nicht zur Partei passen. Dem Wunsch kamen die Delegierten nach, allerdings nur knapp. Mit 98,55 Prozent stimmten die Delegierten in einer verbundenen Abstimmung für Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin der Partei und ein Spitzenteam aus ihr und Robert Habeck. Baerbock ist die erste Kanzlerkandidatin der Grünen überhaupt.

Vor dem Auftritt hatten die Delegierten am Sonnabend diszipliniert das inhaltliche Programm abgearbeitet: Keine verzögernden Geschäftsordnungsanträge, keine langwierigen Debatten, nicht einmal große technische Schwierigkeiten, die bis zum Nachmittag den Ablauf nach hinten geschoben hätten. Nur der Applaus-Button, mit dem online Zustimmung ausgedrückt werden kann, hing zwischendurch. Die Parteitagsleitung warnte: Es könne passieren, dass der Applaus, dem man einem Beitrag spendet, erst beim nächsten Beitrag angezeigt wird.

Das ist die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock

Annalena Baerbock ist aktuell eine der wichtigsten Grünen-Politikerinnen.
Annalena Baerbock ist aktuell eine der wichtigsten Grünen-Politikerinnen. © Roland Magunia/Funke Foto Services
Sie war die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte ihrer Partei: Annalena Baerbock.
Sie war die erste Kanzlerkandidatin in der Geschichte ihrer Partei: Annalena Baerbock. © Maurizio Gambarini/Funke Foto Services
Im Bundestagswahlkampf 2021 machte die Grünen-Politikerin zunächst eine gute Figur, patzte dann aber mit mehreren kleinen Skandalen.
Im Bundestagswahlkampf 2021 machte die Grünen-Politikerin zunächst eine gute Figur, patzte dann aber mit mehreren kleinen Skandalen. © Ingo Otto/FUNKE Foto Services
Aktuell ist Annalena Baerbock Außenministerin in der Ampel-Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz.
Aktuell ist Annalena Baerbock Außenministerin in der Ampel-Koalition von Bundeskanzler Olaf Scholz. © Reto Klar/Funke Foto Services
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Grünes Wahlprogramm: Radikale Entradikalisierung

Auch mit Schönheitsfehlern in der Online-Darstellung waren die Mehrheitsverhältnisse an diesem Tag aber klar: Kaum eine Abstimmung, wo sich der Bundesvorstand nicht durchsetzen konnte mit seinem Entwurf, die Antragstellenden aus der Basis, die an vielen Stellen versuchten, dem Wahlprogramm schärfere linke Konturen zu geben, scheiterten reihenweise und eindeutig.

Man sei sich ja einig in der Zielsetzung, betonten stets diejenigen, die den Entwurf gegen die Änderungswünsche verteidigten – aber bitte doch nicht so. Egal ob Enteignung von Wohnungskonzernen oder 200 Euro mehr für Menschen, die Hartz IV beziehen – alles, was die Partei in den Ruch von Radikalität bringen könnte, wurde auf diese Art umarmt und anschließend abgelehnt.

Was tatsächlich beschlossen wurde, ist anschlussfähig in viele Richtungen. Die Grünen schrieben sich am Samstag eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ins Wahlprogramm, ebenso eine schrittweise Erhöhung des Hartz-IV-Satzes, die mit 50 Euro mehr im Monat beginnen soll. Zudem will die Partei deutlich mehr Geld in Bildung und Forschung investieren. Kitas und Schulen sollen finanziell gestärkt werden, auch einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung soll es geben, das Bafög will die Partei für Auszubildende und Studierende ausweiten.

Schon am Freitagabend hatten die Delegierten außerdem für ein Tempolimit von 130 Stundenkilometern auf Autobahnen und einen Zulassungsstopp für Autos mit Verbrennungsmotoren 2030 gestimmt. Den CO2-Preis will die Partei 2023 auf 60 Euro erhöhen. Nach den Beschlüssen der Koalition soll sich der Preis erst ab 2025 in diesem Bereich bewegen. Am Sonntag will die Partei noch über außenpolitische Positionen beraten.

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