Berlin. Im Fall Anis Amri erhebt ein Ermittler aus NRW Vorwürfe gegen Bundesbehörden. Das Bundesinnenministerium dementiert. Eine Spurensuche.

Als bei Europas Sicherheitsbehörden gerade alle Alarmstufen auf dunkelrot sind, hört das Landeskriminalamt in Nordrhein-Westfalen zum ersten Mal von einem „Anis“, einem „Tunesier“. Es ist der 16. November 2015, drei Tage, nachdem Terroristen des selbsternannten „Islamischen Staates“ in Paris ein Blutbad anrichten und 130 Menschen töten.

Ein Spitzel in der deutschen islamistischen Szene berichtet einem Kriminalbeamten des LKA in Düsseldorf von einem Freitagsgebet in einer Moschee in Hildesheim, geleitet von einem Prediger namens „Abu Walaa“, eine der wichtigsten Figuren des IS in Deutschland. Die Polizisten erfahren von Aussagen, die auf Anschlagspläne schließen lassen. Die Quelle berichtet von „einem großen und einem kleinen Bums“.

Anis Amri verübte 2016 Terroranschlag in Berlin

Der Islamist „Abu Walaa“ ist schon länger im Fokus der Sicherheitsbehörden. In diesem Umfeld taucht nun auch dieser „Anis“ auf. Mehrfach wird der Informant den Polizisten über ihn berichten. Es ist Anis Amri, der Tunesier, der Ende Dezember 2016 mit einem gestohlenen Lastwagen auf den Berliner Breitscheidplatz rast und elf Besucher und den polnischen Lkw-Fahrer tötet.

Die Quelle der Polizei, Tarnname „VP01“, arbeitet schon viele Jahre für die Ermittler. Seine Informationen seien „herausragend“ und „zuverlässig“. So berichtet es der Leiter der Ermittlungskommission „EK Ventum“ vor einer Woche im Untersuchungsausschuss im Bundestag, Kriminalhauptkommissar M.

Dass M. sehr viel von seinem Spitzel hält, ist wichtig. Damals – und heute. Denn jetzt hat der ranghohe Kriminalbeamte schwere Vorwürfe gegen die Bundesbehörden erhoben. Die „VP01“ mache „zu viel Arbeit“, die Quelle solle „kaputt geschrieben werden“, sei dem Ermittler gesagt worden. „Von ganz oben“, behauptet er.

Bundesinnenministerium dementiert Vorwürfe

Auf Nachfrage gibt der Ermittler aus NRW gegenüber den Abgeordneten des Bundestags an, dass ihm dies bei einem Gespräch am Rande eines Treffens beim Generalbundesanwalt durch einen Vertreter des Bundeskriminalamts mitgeteilt worden sei.

Das Bundesinnenministerium dementiert, dass irgendjemand die Arbeit der NRW-Ermittler in dieser Weise torpediert habe. Der betroffene BKA-Ermittler gibt in einer „dienstlichen Erklärung“ an, dass weder die Spitze der Behörde noch das Ministerium die „Glaubwürdigkeit“ des Informanten bewertet habe. Und der Polizist sagt sogar, das Gespräch beim Bundesanwalt habe es nicht gegeben.

Es steht Aussage gegen Aussage. Vieles bleibt nach den Angaben der Beteiligten unklar, über Motive wird spekuliert, die Abgeordneten im Bundestag waren nach der Aussage des Beamten aus Düsseldorf sichtlich erstaunt. Warum kommt der Ermittler aus NRW erst jetzt mit seinen Vorwürfen, drei Jahre nach dem Attentat.

Quelle „VP01“ lieferte wichtige Informationen

Die Abgeordneten wollen nun in den kommenden Wochen weitere Zeugen befragen, Staatsanwälte, Ermittler aus NRW und vom Bund, womöglich sogar den damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière.

Denn der Fall ist brisant. Vieles, was die Quelle „VP01“ damals an Informationen zu Anis Amri beschaffte, kann nach mehreren Jahren Ermittlungen als treffend bewertet werden. Auch deshalb lohnt sich der Blick in die ersten Monate, nachdem Anis Amri den deutschen Behörden bekannt wurde.

Hätte Anschlag am Breitscheidplatz verhindert werden können?

Die Frage steht im Raum: Hätte der Anschlag verhindert werden können, wenn Polizei und Verfassungsschutz damals besser zusammengearbeitet hätten? Akten des Landeskriminalamtes, die unsere Redaktion einsehen konnte, zeigen: Schon von Beginn an waren die Ermittler in Nordrhein-Westfalen verärgert darüber, wie BKA und die Berliner Polizei im Fall Amri agierten. Diesen Konflikt hebt Ermittler M. mit seinen Aussagen nun noch einmal auf die große Bühne.

Im Februar 2016 ist die Personalie Anis Amri mehrfach Thema im Gemeinsamen Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin. Ermittler M. und die Düsseldorfer Kollegen halten die Informationen von „VP01“ für relevant, Amri für hochgefährlich. Doch nicht alle sehen das so. „BKA und BfV haben erhebliche Zweifel an den von der Quelle geschilderten Anschlagsszenarien“, notieren die NRW-Ermittler nach einem der Treffen in Berlin. BfV, das ist das Bundesamt für Verfassungsschutz.

Laut Ermittler zweifelten Bundesbehörden an „VP01“

Das BKA halte es für „unwahrscheinlich“, dass der Spitzel der Düsseldorfer Ermittler von drei Seiten Informationen über Amris Anschlagspläne erhalten haben will. Dass die Bundesbehörden zu diesem Zeitpunkt eigene Erkenntnisse über die „VP01“ und dessen Arbeit hatten, ist nicht bekannt.

Im Untersuchungsausschuss sagt Ermittler M. nun aus, dass er „keine Erklärung“ dafür habe, weshalb die Bundesbehörden an der „Glaubwürdigkeit“ seiner Quelle Zweifel hatten. „Das hat es so noch nicht gegeben.“

Gerade in den Wochen und Monaten nach dem Attentat in Berlin hieß es von Seiten der Bundesbehörden vor allem: die Ermittlung war vor allem Sache der Länder, Berlin und Nordrhein-Westfalen, Amri ein „Polizeifall“.

Amri-Drohvideo blieb unter Verschluss

Doch dieses Bild hat Risse bekommen: Erst wurde bekannt, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz selbst einen Informanten in der extremistischen Berliner „Fussilet-Moschee“ hatte, in der sich Amri oft aufhielt. Auch wenn die Quelle, so heißt es in Sicherheitskreisen, nicht die Möglichkeit gehabt hatte, Informationen zu Amri zu beschaffen, da sie nicht Arabisch gesprochen habe und zu alt gewesen sei – so war doch ein Spitzel des Bundes „im Umfeld“ von Amri.

Erst kürzlich wurde durch einen Medienbericht bekannt, dass dem Bundesnachrichtendienst kurz nach dem Anschlag Ende 2016 ein Drohvideo durch einen ausländischen Geheimdienst zugeschickt wurde. Es stammt von Anis Amri. Auch das blieb bisher unter Verschluss.

Nun legen die Schilderungen von NRW-Ermittler M. zumindest nahe, dass die Bundesbehörden gravierend Einfluss auf die Ermittlungen im Fall Amri genommen haben könnten. Geht es nach M. – nicht zum Guten.

Amri wird in Berlin festgenommen – zehn Monate vor Anschlag

Und auch die Berliner Ermittler kommen in der Bewertung durch den Kriminalbeamten M. nicht gut weg. Mitte Februar 2016, Monate vor dem Anschlag, kommen die Polizisten an neue brisante Informationen zu Amri. In einem Chat über den Messengerdienst Telegram beschreibe Amri, dass er „Gott dienen will, egal mit welchen Mitteln“, so Ermittler M.

Kurz danach kommt es zu einem Vorfall, der die Beamten in NRW nachhaltig verärgert. Amri ist unterwegs nach Berlin. Die Ermittler in der Hauptstadt sollen den Islamisten beschatten. „Tarnung vor Wirkung“, vermerken die Beamten in NRW. Doch Berlin hält sich daran nicht – und nimmt Amri nach seiner Ankunft mit dem „Flixbus“ und einer „Gefährderansprache“ fest. Amri weiß jetzt, dass die Polizei an ihm dran ist. Damit ist auch Spitzel „VP01“ in Gefahr.

Verärgert notieren die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen nach einem weiteren Treffen im Terror-Abwehrzentrum, dass die Quelle „abgezogen werden“ müsse. Dass Überwachungsmaßnahmen ins Leere laufen würden, weil Amri „derart sensibilisiert“ sei. Die Düsseldorfer Ermittler sprechen von einem „Vertrauensbruch“ und regen an, den Sachverhalt in einem „Vier-Augen-Gespräch“ auf höherer Ebene zu klären.

NRW wollte Amri zu einem herausgehobenen Fall machen

Durch diese Protokolle, die Aussagen durch Ermittler M., aber auch die bisherigen Erkenntnisse durch die Untersuchungsausschüsse zum Berlin-Attentat zeichnet sich vor allem ein Bild: NRW drängte Monate vor dem Anschlag darauf, Amri zu einem herausgehobenen Fall zu machen, verließ sich dabei vor allem auf seine Quelle „VP01“. Die Berliner Behörden schienen überfordert – und die Bundesbehörden? Unklar.

Eine Anfrage unserer Redaktion lässt das Bundeskriminalamt unbeantwortet und verweist an die Angaben aus dem Innenministerium. Dort heißt es in einer Stellungnahme an den Untersuchungsausschuss, dass kein Mitarbeiter des BKA oder des Ministeriums gegenüber dem Ermittler aus NRW eine Weisung erteilt habe, die besagte Quelle „abzuschalten“, weil sie „zu viel Arbeit“ mache.

Ermittler in Bund und Ländern waren am Limit

Es hilft, die Lage der deutschen Sicherheitsbehörden Ende 2015 in den Blick zu nehmen. Damals war der Siegeszug des „Islamischen Staates“ in Syrien und Irak auf dem Höhepunkt. Die schweren Attentate von Paris führten vor Augen, wie stark der IS auch in Europa operiert. Im März 2016 folgten die Anschläge in Brüssel. Auch in Deutschland kam es zu Anschlägen, in Würzburg und Ansbach.

Die Ermittler in Bund und Ländern waren am Limit. In kurzer Frequenz kamen Hinweise auf gefährliche Islamisten, nicht selten mit Plänen für Gewalttaten. Zudem liefen die Ermittlungen zu den Anschlägen in Paris und Brüssel auf Hochtouren, auch das hatte Kräfte gebunden. Dann taucht Anis Amri auf. Ermittler M. sagt im Bundestagsausschuss: „Wir haben viel Arbeit gemacht, das muss man so sagen.“

Beunruhigende Kenntnisse über Amri

Die „VP01“ der Ermittler in Nordrhein-Westfalen liefert in der Zeit weitere beunruhigende Kenntnisse über Amri. Er habe die Anschläge in Brüssel befürwortet. Das BKA, auch das ist in der aktuellen Debatte ein wichtiger Aspekt, stuft die Gefährlichkeit eines Anschlags durch Amri hoch: von 7 auf 5, in einer Skala, bei der 1 die höchste Alarmstufe ist. Auch die Beamten des Bundes sehen zu diesem Zeitpunkt, dass die Person Amri ernst zu nehmen ist. Und doch gelingt es den Sicherheitsbehörden nicht, ihn unter Kontrolle zu halten.

Ende Juli 2017 durchsuchen Ermittler die Moschee um den Islamisten „Abu Walaa“ in Hildesheim. Es ist eines der größten Anti-Terror-Verfahren gegen den IS in Deutschland. Auch die Beamten in NRW sind jetzt stark mit diesen Ermittlungen ausgelastet. Kurz darauf zieht das LKA Nordrhein-Westfalen den Spitzel „VP01“ nach eigenen Angaben aus der Szene ab. Sie kommt in ein Zeugenschutzprogramm. Und Anis Amri gerät nach und nach aus dem Blick der Behörden.

Untersuchungen zu Quelle „VP01“ werden ausgeweitet

Die Abgeordneten im Untersuchungsausschuss im Bundestag wollen die mutmaßliche Auseinandersetzung um die Quelle „VP01“ nun noch einmal durch weitere Ermittlungen aufklären. Beamte vom BKA sollen als Zeugen geladen werden, Anwälte vom Generalbundesanwalt.

„Dass das BKA eine erfahrene V-Person mundtot machen will, wäre ein merkwürdiger Vorgang, über dessen Hintergründe wir aktuell nur spekulieren können“, sagt der Innenexperte der FDP, Benjamin Strasser. „Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass sich ein erfahrener Kriminalbeamter ein solches Gespräch einfach aus den Fingern saugt.“

Es müsse untersucht werden, ob es „übergeordnete Motive gab, den Quelleneinsatz und damit auch einen Ermittlungsstrang gegen Anis Amri zu torpedieren“, hebt die innenpolitische Sprecherin der Grünen, Irene Mihalic, hervor. „Die Gefährdungsbewertung von BKA und BfV war eine zentrale und leider auch falsche Weichenstellung für die weiteren Ermittlungen gegen den späteren Attentäter vom Breitscheidplatz.“

„Kein konkreter Gefährdungssachverhalt“ erkennbar

Deutlich zurückhaltender ist der Ausschuss-Obmann der Unionsfraktion, Volker Ullrich. Man müsse nun zunächst alle anderen Beteiligten befragen. „Ich frage mich allerdings schon, warum der Kriminalbeamte erst jetzt, Jahre nach dem Anschlag, mit seinen Vorwürfen an die Öffentlichkeit geht.“ Zuvor hatte der LKA-Ermittler bereits in den Untersuchungsausschüssen zu Amri in Düsseldorf und Berlin als Zeuge ausgesagt.

Zum letzten Mal ist Anis Amri Anfang November 2016 auf der Agenda im Terrorismus-Abwehrzentrum in Berlin, wenige Wochen vor dem Anschlag. Zwar gibt es Hinweise darauf, dass NRW auch hier auf die Gefahr durch Amri hinwies. Im Protokoll zur Sitzung heißt es jedoch nur, dass „Einigkeit“ bestehe, dass „kein konkreter Gefährdungssachverhalt“ erkennbar sei.

Am 16. Dezember 2016 erschießt Anis Amri einen polnischen Lastwagenfahrer, kapert das Fahrzeug und fährt auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Einige Monate zuvor schon hatten die Ermittler aus Nordrhein-Westfalen notiert, dass die Behörden nicht gut aussehen würden, sollte Amri einen Anschlag begehen.

Der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, hatte offenbar weitere Ziele in Berlin im Visier. Auch das Wohnhaus von Bundeskanzlerin Angela Merkel zählte dazu.