Washington. Die Aufarbeitung der Katastrophe um den Unglücksflieger 737 Max wird für den US-Flugzeugbauer Boeing zur milliardenschweren Bürde.

Nach zwei technikbedingten Abstürzen mit 346 Toten hofft Boeing-Chef Dennis Muilenburg, dass die rund 390 weltweit seit März mit Startverbot belegten Passagiermaschinen vom Typ 737 Max nach geprüfter Nachrüstung Anfang Oktober wieder in die Luft dürfen.

Die halbjährige Zwangspause für die 5000-mal vorbestellte Cashcow des weltgrößten Flugzeugherstellers aus Chicago hat ein milliardenschweres Loch in den Geschäftszahlen hinterlassen. Tendenz: wachsend.

Mit jedem Tag gerät der Konzern mit seinen rund 138.000 US-Mitarbeitern nach den Desastern von Indonesien (Oktober 2018) und Äthiopien (März 2019) mehr unter Druck.

Nach vorläufigen Behördenangaben hatte eine unzulängliche Flugsteuerungssoftware (MCAS) die Piloten überfordert und die Jets in einen nicht mehr reversiblen Sturzflug getrieben. Sollte die 737 Max nicht zügig eine Flugfreigabe erhalten, müsse am Stammwerk nahe Seattle im Bundesstaat Washington die monatliche Produktion, die bereits von 55 auf 42 Maschinen des Typs heruntergefahren worden ist, vorübergehend ganz gestoppt werden, deutete Muilenburg an. Die damit verbundenen Entlassungen würden sich voraussichtlich auf die gesamte Lieferkette auswirken. Potenziell betroffen: 1,3 Millionen Beschäftigte bei über 12.500 Zulieferern.

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Fluggesellschaften müssen Zehntausende Flüge streichen

Ob Muilenburgs Zeitvorstellungen realistisch sind, erscheint noch fraglich. Die für die Sicherheitsabnahme der Nachrüstungen zuständige amerikanische Flugaufsichtsbehörde Federal Aviation Administration (FAA) hält sich bedeckt, was den Termin für die Wiederinbetriebnahme angeht.

Weswegen Endabnehmer wie die US-Fluggesellschaft Southwest oder Air Canada gerade ihre Flugpläne bis Januar 2020 ohne die 737 Max konfiguriert haben. Andere, wie American Airlines oder United, die zusammen mit Southwest 72 Maschinen vom Typ 737 Max in ihren Flotten haben, melden seit Beginn des Startverbots Zehntausende Flugausfälle. Und Einnahmeverluste, die sich inzwischen der Milliardengrenze nähern.

Boeing selbst hat im zweiten Quartal mit minus drei Milliarden Dollar den größten Einzelverlust in der Unternehmensgeschichte eingefahren. Durch den Umstand, dass bereits ausgelieferte Maschinen vom Typ 737 nicht einsetzbar sind, ergeben sich weitere Minder­einnahmen von rund drei Milliarden, kalkulieren Experten.

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Gegen Jahresende könnte sich der Schaden bei 20 Milliarden Dollar bewegen

Um die Angehörigen der Todesopfer zu besänftigen, von denen viele klagen oder dies angekündigt haben, hat die Unternehmenszentrale einen Soforthilfefonds von 100 Millionen Dollar (90 Millionen Euro) aufgelegt. Fachanwälte halten das für eine „PR-Maßnahme“ von Boeing. Am Ende könne sich die Entschädigung der Opferfamilien auf insgesamt über drei Milliarden Dollar belaufen, sagen sie.

Ein Flugzeug der Fluggesellschaft Lion Air startet vom Internationalen Flughafen Juanda.
Ein Flugzeug der Fluggesellschaft Lion Air startet vom Internationalen Flughafen Juanda. © dpa | Trisnadi

Zudem verlieren erste Boeing-Partner die Geduld und stornieren, wie gerade bei der saudischen Billigfluglinie Flyadeal im Volumen von sechs Milliarden Dollar geschehen, ihre 737-Order und steigen auf das europäische Konkurrenzprodukt A320neo von Airbus um. Gegen Jahresende, so sagen Analysten in Washington, könne sich der Schaden für Boeing in der Größenordnung von 20 Milliarden Dollar plus x bewegen.

Zu allem Überdruss ist die 737 Max nicht das einzige Problemkind von Boeing. Beim Langstreckenjet 777X deutet sich nach jetzigem Stand eine Verzögerung von über sechs Monaten an, bis der neue Großraumflieger genehmigt in den Flugbetrieb aufgenommen werden kann – als einer der Erstkunden wartet unter anderem die deutsche Lufthansa auf die neuen Maschinen.

Zweifel an der Zuverlässigkeit der Prüfer

Apropos Genehmigung: Selbst wenn die FAA die Unbedenklichkeit des überarbeiteten MCAS-Systems attestieren sollte, das die Abstürze mit herbeigeführt hat, heißt das nicht automatisch, dass andere maßgebliche Aufsichtsbehörden, etwa die European Aviation Safety Agency (EASA), dem blind folgen. Dort werden eigene Untersuchungen zum Boeing-Flieger angestrebt, die wertvolle Zeit kosten können.

Dan Elwell, der kommissarische Chef der FAA, hat darauf indirekt in einem Brief an den US-Kongress hingewiesen. Man hoffe, „mit den führenden Luftaufsichtsbehörden weltweit annähernd simultane Genehmigungen“ für die Wiederinbetriebnahme der 737 Max zu bekommen. Dabei hat die FAA genug eigene Probleme.

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Zum einem haben FAA-Prüfer im Juni bei der 737 Max ein zweites erhebliches Technikmanko diagnostiziert, das bisher nicht bekannt war. Der Fall hing mit dem Flugkontroll-Computer zusammen, schreibt die in Sachen Boeing gut unterrichtete „Seattle Times“. Beim Nachstellen des Szenarios im Simulator habe mindestens ein Pilot die Maschine nicht mehr retten können. Der Fall sei darum als „katastrophal“ eingestuft worden und habe ein „fundamentales Neu-Design der Computersoftware“ nach sich gezogen. Letzteres soll nach den Vorstellungen bis Ende September zur Zertifizierung fertig sein.

Aber an der Zuverlässigkeit der Prüfer gibt es Zweifel. Eine große Recherche der „New York Times“ hat gerade aufgezeigt, dass die US-Aufsichtsbehörde FAA nach dem ersten Absturz im Herbst vergangenen Jahres intern einräumte, das MCAS-System von Boeing nur ansatzweise zu verstehen.

MCAS-System in Schulungsunterlagen für Piloten zunächst nicht erwähnt

Ursache: Im Kern habe sich Boeing bei Bau und Zertifizierung der 737 Max weitgehend selbst kontrollieren dürfen. Die FAA, personell ausgedünnt, hatte über Jahre hoheitliche Aufgaben nach und nach an den Hersteller Boeing delegiert. „Vertrauen in die Tadellosigkeit der FAA schafft das nicht unbedingt“, erklärte ein EU-Diplomat in Washington und erinnerte an ein fatales Detail: In den Schulungsunterlagen für Piloten, die die 737 Max fliegen sollten, war das MCAS zunächst gar nicht erwähnt.

Das führte unter anderem dazu, dass die Piloten der indonesischen Lion-Air-Maschine verzweifelt in der Bedienungsanleitung nach einer Möglichkeit suchten, die „Nase“ ihres Flugzeugs, die durch das MCAS-System stark nach unten gedrückt worden war, wieder hochzuziehen. Vergeblich. Alle 189 Menschen an Bord kamen bei dem Absturz am 29. Oktober 2018 ums Leben.

Bei einer Kongressanhörung in dieser Woche sagte Ali Bahrami, der Sicherheitschef der FAA: „Wir hätten mehr Beschreibung in das computerbasierte Training integrieren sollen, um zu erklären, was MCAS ist.“