Berlin. Wird das Recht nicht konsequent durchgesetzt? Gegen knapp 500 Neonazis liegen Haftbefehle vor. Einige werden seit Monaten gesucht.

In Deutschland sind 497 Rechtsextreme auf freiem Fuß, obwohl nach ihnen gefahndet wird. 657 Haftbefehle konnten – Stand Ende März – nicht vollstreckt werden. Gegen einige von ihnen liegen mehrere Haftbefehle vor.

Diese Zahlen gehen aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linke-Fraktion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Sie sind im März 2019 im Vergleich zur vorhergehenden Zählung im September 2018 gestiegen: von 605 auf 657 Haftbefehle, von 467 auf 497 Gesuchte.

44 gesuchte oder verurteilte Straftäter sind im Ausland

Indes waren die Sicherheitsbehörden nicht etwa untätig. Im selben Zeitraum hatten sie vielmehr 305 Haftbefehle vollstreckt. Und trotzdem nahm die Gesamtzahl weiter zu. Der Fahndungsdruck zeige „ganz offensichtlich wenig abschreckende Wirkung“, beklagt Linken-Politikerin Ulla Jelpke im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die Innenpolitikerin spricht von „alarmierenden Zahlen“. Vor fünf Jahren waren „nur“ 253 Neonazis zur Fahndung ausgeschrieben. Die plausibelste Erklärung für den rasanten Anstieg seither sind die zahlreichen Angriffe auf Asylbewerber und Flüchtlingsunterkünfte gerade nach dem Jahr 2015.

Unabhängig davon steigt seit Jahren die gesamte Zahl der „offenen Haftbefehle“. Im März 2019 waren es bundesweit 185.736 – 10.000 mehr als im Vorjahr. Ein Höchststand. Ist das eine Gefahr für die innere Sicherheit?

Erfolglosigkeit weckt Erinnerungen an NSU-Morde

Beunruhigend und im Allgemeinen nicht zu fassen ist, dass der Staat das Recht nicht durchsetzt. Außerdem weckt die Erfolglosigkeit Erinnerungen an Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Die drei Neonazis waren untergetaucht und hatten als „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) Anschläge verübt.

Die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschaepe.
Die verurteilte Rechtsterroristin Beate Zschaepe. © imago/Sebastian Widmann | Sebastian Widmann

Warum Haftbefehle im rechten Milieu nicht vollstreckt werden, geht aus Jelpkes Parlamentsanfrage nicht hervor, insbesondere nicht, ob die Personen sich bewusst abgesetzt haben, also untergetaucht sind. 44 Verdächtige oder verurteilte Straftäter hielten sich im Ausland auf, überwiegend in Europa, von Russland bis Portugal, am häufigsten beim Nachbarn Österreich.

In 18 der 657 Fälle ging es um politisch motivierte Gewaltdelikte, zumeist um Körperverletzungen und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte. In 90 Fällen bestanden Haftbefehle wegen Straftaten mit politisch motiviertem Hintergrund: Volksverhetzungen, Beleidigungen, Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen.

Die übrigen Fälle ordnet die Bundesregierung nach eigenen Angaben dem Bereich der Allgemeinkriminalität zu: Diebstahl, Betrug, Erschleichen von Sozialleistungen und Verkehrsdelikte.

Jeder Polizeikontakt führt normalerweise zur sofortigen Festnahme

In der Praxis werden die Haftbefehle in den Fahndungsdateien gespeichert. Jeder Polizeikontakt, zum Beispiel bei Grenz- und Verkehrskontrollen, führt zur sofortigen Festnahme. Nicht wenige erledigen sich allerdings schlicht durch die Zahlung einer Geldbuße.

In der Praxis kommt die Polizei nicht dazu, Neonazis zu suchen, die wegen weniger schwerer Straftaten gesucht werden. Salopp gesagt ist die Fahndung ein Massengeschäft. Die Polizei ist personell überfordert. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als Prioritäten zu setzen.

Stufe 1: Terrordelikte. Stufe 2: Gewaltdelikte (115 Fahndungen). Alle sonstigen Delikte kommen auf der Prioritätenliste an dritter Stelle, unabhängig davon, ob sie politisch motiviert sind oder nicht. Sie machen bei den Rechtsextremisten den Großteil der Haftbefehle aus, genau 529 Fahndungen. Dazu kamen 13 Haftbefehle ausländischer Behörden.

Wegen eines „Hitlergrußes“ wird man in der Regel keine groß angelegte Razzia unternehmen oder gar Zielfahnder einsetzen. Letztlich muss man jeden Einzelfall bewerten. Besteht Fluchtgefahr? Ist es vielleicht taktisch geboten, einen Zugriff hinauszuschieben?

So drängen die Neonazis in die Kampfsportszene

weitere Videos

    Aufklärungsquote bei politisch motivierter Kriminalität ist ungenügend

    Und so kommt es, dass 226 Rechtsextremisten seit einem halben Jahr und länger mit Haftbefehl gesucht werden. Im Gemeinsamen Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) sind sie längst Routine, in den Arbeitsgruppen kommen die offenen Haftbefehle nur kurz zur Sprache. „Im Schnitt standen vier Minuten pro Person zur Verfügung“, rechnete Jelpke vor.

    • Mehr zum Thema: Rechtsextreme trainieren laut Bericht für „Bürgerkrieg“

    In regelmäßigen Abständen startet die Linken-Politikerin parlamentarische Anfragen zum Rechtsextremismus. Dass Neonazis nicht vorrangig gesucht, nach ihnen nicht mit Nachdruck gefahndet wird, ist für Jelpke schwer erträglich und nährt ihren Argwohn.

    Die Sicherheits­behörden könnten noch nicht einmal selbst angeben, „wie effektiv die Fahndung eigentlich ist“, kritisiert sie. Die Aufklärungsquote bei politisch motivierter Kriminalität, ganz gleich, ob rechts oder links, ist nicht gerade beeindruckend. Sie lag 2018 bei 45,3 Prozent, war zuletzt gestiegen.

    Die Grünen-Abgeordnete Irene Mihalic, eine ehemalige Polizistin, weiß natürlich, dass sich hinter der Statistik der offenen Haftbefehle viele weniger relevante Delikte verbergen. Ein typisches Beispiel ist, dass gerade Rechtsextreme nicht selten Geldstrafen nicht zahlen – mit der Konsequenz, dass dann eine Haftstrafe fällig wird, der sie sich dann wiederum entziehen.

    Grüne: Innenminister sollen Vollstreckungsdefizit lösen

    Dessen ungeachtet kommt Mihalic zu einer vernichtenden Fundamentalkritik: „Es fehlt derzeit jegliche Anstrengung seitens der Innenminister, das Problem koordiniert anzugehen, damit man den seit 2014 weiter anwachsenden Berg der offenen Haftbefehle Stück für Stück abtragen kann“, sagte sie unserer Redaktion.

    Die Innenminister, die am Donnerstag und Freitag in Kiel tagen, „müssen unbedingt eine Strategie vorlegen, wie sie dieses Vollstreckungsdefizit überwinden wollen“, forderte die Grünen-Innenpolitikerin. Im Kern verfolgen Mihalic wie Jelpke das gleiche Anliegen: eine neue Priorisierung, sodass bei politisch motivierter Kriminalität „deutlich schneller vollstreckt wird“.