Bremen. Seit 73 Jahren stellt die SPD den Bremer Bürgermeister. Bei der Bürgerschaftswahl am Sonntag könnte sie wieder eine Hochburg verlieren.

Draußen taucht die Abendsonne die Stadt in warmes Licht. Drinnen beleuchten Neonröhren einen Saal mit weißen Betonwänden. Die Islamische Föderation feiert in einem Indus­triegebäude im Nordosten von Bremen den Fastenmonat Ramadan. Sie hat außer ihren Mitgliedern auch Politiker zum „Iftar“ geladen – zum Fastenbrechen nach Sonnenuntergang. Als der Vorsitzende des islamischen Dachverbands in Bremen aufruft, am Sonntag zur Wahl zu gehen, huscht Carsten Sieling verspätet in den Saal.

Der Bürgermeister und SPD-Politiker begrüßt fast alle Gäste am Ehrentisch. Nur einen würdigt er keines Blickes: Carsten Meyer-Heder. Der Unternehmer ist erst vor einem Jahr in die CDU eingetreten, jetzt hat er Chancen, als Spitzenkandidat seiner Partei die Bürgerschaftswahl zu gewinnen. Er könnte Sielings Nachfolger werden. Immer wieder schaut Meyer-Heder im Laufe des Abends zu seinem Kontrahenten hinüber. Die beiden kennen einander gut. Doch Sieling sucht das Gespräch mit seinen Tischnachbarn.

Für die SPD geht es in Bremen wieder mal um alles

Die politische Anspannung im kleinsten Bundesland ist unübersehbar. Vor allem für die Sozialdemokraten geht es – wieder einmal – um alles. Entweder verlieren sie eine weitere Hochburg und stellen in Bremen erstmals seit 73 Jahren nicht mehr den Bürgermeister. Oder sie schaffen es noch, eine rot-rot-grüne Koalition zu bilden.

Das wäre dann die erste in einem westdeutschen Bundesland und könnte als weiteres Zeichen für einen Linksschwenk der SPD gelten. Bisher ist die Partei nur in Thüringen und Berlin ein Bündnis mit Grünen und Linken eingegangen.

Vor allem für Nahles wird der Wahlsonntag zum Schicksalstag

Zusammen mit dem erwarteten schlechten Abschneiden bei der Wahl zum EU-Parlament wird der Wahlsonntag deshalb vor allem für SPD-Chefin Andrea Nahles zum Schicksalstag. Ihre Position in der Partei und der Bundestagsfraktion dürfte noch wackeliger werden, die Fragen nach dem Kurs der Partei und einem Verbleib in der großen Koalition noch drängender.

In Bremen gibt sich Bürgermeister Sieling gelassen. Beim Iftar-Essen erklimmt er lächelnd die Bühne, wünscht eine „friedliche Fastenzeit“. Auf Forderungen seiner Vorredner nach mehr gesellschaftlicher Akzeptanz von Migranten im Allgemeinen und Muslimen im Besonderen geht Sieling nicht ein. Er lobt Integrationsprojekte und lädt – als würde nichts geschehen – zum Ramadan-Empfang im Juni ins Rathaus ein. Ob er dann noch in Amt und Würden ist?

SPD steht in Umfragen bei 24 Prozent

Auch für den 60-Jährigen geht es um alles, mindestens aber darum, überhaupt erst einmal als Bürgermeister gewählt zu werden. Denn Sieling ist zwar, was auch viele Bremer noch immer nicht wissen, seit vier Jahren Regierungschef. Doch das Amt fiel ihm quasi in den Schoß.

Sein Vorgänger Jens Böhrnsen – auch er bundesweit ein Unbekannter – war nach der Bürgerschaftswahl 2015 wegen des schlechten Ergebnisses zurückgetreten. Damals hatte die SPD knapp 33 Prozent erzielt – ein Wert, bei dem die nüchternen Bremer Sozialdemokraten heute Luftsprünge machen würden. Aktuell steht die Partei in den Umfragen bei 24 Prozent, die Union bei 27 Prozent.

„Ich habe immer SPD gewählt, jetzt wähle ich mal euch“

„Sensationell“ findet das CDU-Kandidat Meyer-Heder. „Ich glaube nach wie vor, dass wir 30 Prozent plus x schaffen können.“ Der 58-Jährige wirkt müde, als er am Montagabend den Empfang bei den Islam-Verbänden verlässt. Der Wahlkampf schlaucht ihn, er hätte nicht gedacht, dass sein Terminkalender so schnell so voll werden kann.

Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder geht manchmal etwas hemdsärmelig mit Programm und Positionen der CDU um.
Spitzenkandidat Carsten Meyer-Heder geht manchmal etwas hemdsärmelig mit Programm und Positionen der CDU um. © Reuters | Fabian Bimmer

Trotzdem ist Meyer-Heder optimistisch: „Ich erlebe, dass Menschen unaufgefordert sagen: Ich habe immer SPD gewählt, jetzt wähle ich auch mal euch.“ Bei vielen Bremern sei angekommen, dass das Bundesland riesige Probleme habe. „Und dass man diese Probleme endlich mal lösen muss.“

Anpacken, machen, notfalls neu denken – so stellt sich der IT-Unternehmer, der vor 25 Jahren seine eigene Firma gründete, auch das Amt als Bürgermeister vor. „Wir haben hier nach 73 Jahren ein verkrustetes System“, sagt Carsten Meyer-Heder, der am liebsten mit Grünen und der FDP einen Neuanfang wagen will. „Das Hauptproblem ist nicht, Lösungen zu finden, sie kommen nicht zur Umsetzung.“

Das Problem der CDU allerdings ist, dass sie Lösungen, die sie im Wahlkampf anbietet, zum Teil wieder einkassieren muss. Erst am Montag räumt der CDU-Fraktionschef ein, dass man die Ideen zur Finanzierung neuer Schulgebäude „vielleicht etwas genauer“ hätte formulieren können. Auch Meyer-Heder, der gern in Jeans daherkommt, geht manchmal hemdsärmelig mit Programm und Positionen seiner Partei um.

SPD-Bürgermeister Sieling: Können stärkste Partei werden

Dem Bürgermeister passiert das nicht. Sieling tritt stets sachlich auf, fehlende Fakten schaut er im Smartphone nach. Auch Sieling glaubt, dass er es wieder ins Amt schaffen kann: „Ich bin optimistisch, dass wir gute Chancen haben, stärkste Partei zu werden“, sagt er, als er sich im Rathaus ein Glas Wasser eingießt.

Das Amtszimmer ist hanseatisch gediegen und kündet von goldenen Zeiten. Draußen fahren die Straßenbahnen über den historischen Marktplatz. Doch die langen Jahre des Strukturwandels haben Spuren hinterlassen. Auch wenn die Wirtschaft wieder Tritt fasst: In dem harten Sparkurs seiner Vorgänger sieht Sieling eine Ursache, dass es der SPD in der Hansestadt heute so schlecht geht.

Richtig sei aber auch, dass die Partei „bundesweit zurzeit in einer schwierigen Lage“ sei, sagt Sieling. „Das merken wir auch in Bremen.“ Dennoch will er Parteichefin Nahles keine Mitschuld an einer möglichen Niederlage geben: „Die SPD im Bund geht genau den richtigen Weg. Wenn das Wirkung zeigt, wird die SPD wieder auf die Füße kommen.“

Kommt es in Bremen zu Rot-Rot-Grün?

Noch Bermens Bürgermeister: Sozialdemokrat Carsten Sieling,
Noch Bermens Bürgermeister: Sozialdemokrat Carsten Sieling, © Reuters | Fabian Bimmer

Dass die Sozialdemokraten in Bremen in der Regel „sieben bis acht Prozent über dem Bundesschnitt“ liegen, will Sieling nutzen, um mit den Grünen, seinem bisherigen Koalitionspartner, und den Linken ein Dreierbündnis einzugehen. Das soll für eine Mehrheit reichen, darauf hat sich Sieling festgelegt. Wird Rot-Rot-Grün damit zum Normalfall und könnte sogar als Vorbild für den Bund gehen? So weit will der vorsichtige Sieling dann auch wieder nicht gehen: „Voraussetzung ist eine pragmatische Linke. Das müssen die in Bremen erst noch unter Beweis stellen.“

Und auch wenn die Bremer SPD traditionell links steht: Einigen Sozialdemokraten ist der Kurs, die Abstimmung auf den letzten Metern zur „Richtungswahl“ aufzublasen und jede Zusammenarbeit mit der CDU abzulehnen, nicht ganz geheuer. Schließlich gab es in der Stadt früher schon große Koalitionen, die die SPD an der Macht hielten. Und tatsächlich lässt Sieling, wenn er über die „finanzpolitisch orientierungslose“ CDU schimpft, die „öffentliches Eigentum privatisieren“ wolle, noch ein kleines Hintertürchen offen. Er sagt nicht, dass die SPD den unsozialen Kurs der CDU nicht mitmache. Er sagt nur: „Das mache ich nicht mit.“