Berlin. BDI-Chef Kempf fürchtet durch das Brexit Chaos einen massiven Rückschlag für die deutsche Wirtschaft. Im Interview nennt er Gründe.

Nach dem erneuten Nein des britischen Parlaments zum Austrittsabkommen mit der EU hat Industriepräsident Dieter Kempf vor gravierenden Folgen für deutsche Unternehmen gewarnt. Im Interview spricht er über die Folgen für die deutsche Industrie.

Die Briten sind immer noch in der EU – obwohl sie am Freitag hätten austreten sollen. Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht für die deutsche Industrie?

Dieter Kempf: Die kurzfristige Verschiebung des seit zwei Jahren bekannten Termins erhöht bei vielen Unternehmen die Unsicherheit über die künftige Gestaltung ihrer betrieblichen Abläufe. Aber für mich gehören die Briten zu Europa – und ich würde mir ihren Verbleib in der EU wünschen, auch wenn er wenig realistisch sein mag. Klar ist: Es herrscht quälende Unsicherheit in der Wirtschaft. Diese unklare Lage trübt die Stimmung ein, vergrault Investoren, kostet Wachstum und Arbeitsplätze. Für unsere Unternehmen lautet deshalb die Forderung: Die britische Politik muss schnellstmöglich den Brexit-Prozess abschließen.

Welche Entwicklung fürchten Sie?

Der britischen Wirtschaft droht eine durchschlagende Rezession. Diese dürfte auch an Deutschland nicht vorüberziehen. Wir rechnen mit einem Rückschlag für die deutsche Wirtschaft in der Größenordnung von mindestens einem halben Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das wären rund 17 Milliarden Euro weniger Wirtschaftskraft allein in diesem Jahr. Wohl jedes vierte Unternehmen mit Geschäftsverbindungen ins Vereinigte Königreich müsste wegen eines harten Brexits Stellen streichen.

In Hannover wird an diesem Wochenende die weltgrößte Industriemesse eröffnet. Sind Auswirkungen des Brexit-Chaos auch dort zu spüren?

Der Brexit ist in vielen Unternehmen das dominierende Thema. Die Verunsicherung hat die Betriebe erreicht. Ich kenne viele Unternehmen, die sich seit mindestens einem Jahr auf den Brexit und dabei auch auf die Möglichkeit eines ungeordneten Brexit vorbereitet haben. Sie haben ihre Prozesse und Wertschöpfungsketten überprüft und angepasst – und sind trotzdem schockiert, was jetzt droht.

Denn die Aussichten, einen chaotischen Brexit zu verhindern, sind in den vergangenen Tagen nicht gestiegen. Und weil Wirtschaft immer zu einem großen Teil Psychologie ist, werden wir die realen Effekte zu spüren bekommen. Konkret dürfte in Hannover manches Gespräch mit Kunden oder Zulieferern platzen und mancher Auftrag nicht zustande kommen. Aktuelle Zahlen zeigen: Etwa die Hälfte der Unternehmen mit wirtschaftlichen Beziehungen ins Vereinigte Königreich schätzt den Schaden durch einen harten Brexit als hoch oder sogar sehr hoch ein.

Wie sollen die Briten die neue Frist bis zum 12. April, die ihnen die EU gesetzt hat, nutzen?

Ob die Fristverlängerung tatsächlich zu einem geordnetem Ausstieg führt, bleibt unsicher. Wer den Vertrag ablehnt, muss jetzt sagen, welchen politisch und wirtschaftlich gangbaren Weg er stattdessen beschreiten will. London muss nun gegenüber Brüssel erklären, wie es einen No-Deal-Brexit ausschließen will. Weil die Zeit drängt, erwarten die Unternehmen auf beiden Seiten des Kanals schnelle Antworten.

Was kann die EU noch tun, um einen harten Brexit zu verhindern?

Ganz klar: Der Ball liegt im britischen Feld. Für die deutsche Wirtschaft ist entscheidend, dass der Binnenmarkt in der EU der 27 Staaten keinen Schaden nimmt. Es ist erforderlich, möglichst enge Beziehungen zum künftigen Drittstaat Vereinigtes Königreich zu erhalten. Aus meiner Sicht ist das Austrittabkommen nach wie vor der Weg, um diesem Ziel näher zu kommen.