Brüssel. Der Brexit beherrscht den EU-Gipfel in Brüssel. Theresa May hat dort zwei Verschiebe-Optionen bekommen. Die Einigung war umstritten.

Letzte Gnadenfrist für die Briten im Brexit-Poker: Der für nächsten Freitag geplante EU-Austritt Großbritanniens wird mindestens bis zum 12. April verschoben – egal, ob die Briten nächste Woche den Austrittsvertrag annehmen oder nicht.

Das haben die EU-Regierungschefs beim Gipfeltreffen am späten Donnerstagabend in Brüssel nach turbulenten, siebenstündigen Beratungen beschlossen. Der Zwei-Wochen-Aufschub ist ein unerwartetes Entgegenkommen an Großbritannien – aber nicht an die britische Premierministerin: Die Regierungschefs hoffen, dass sich unter dem Druck der Ereignisse neue Mehrheiten im Parlament für einen grundlegenden Kurswechsel entscheiden und so ein chaotischer Brexit abgewendet werden kann. Theresa May wird das nicht mehr zugetraut.

Frist bis zum 22. Mai wäre möglich

Wie es Mitte April weitergeht, ist nach dem Gipfel völlig offen. Die Regierungschefs wählten eine Doppelstrategie: Für den eher unwahrscheinlichen Fall, dass das britische Unterhaus kommende Woche den Austrittsvertrag doch noch beschließt, wird Großbritannien eine Frist bis zum 22. Mai unmittelbar vor der Europawahl gewährt, um die ordentliche Abwicklung zu garantieren.

Lässt das britische Parlament den Vertrag ein drittes Mal scheitern, hätte London noch zwei Optionen: Großbritannien verlässt zum 12. April ohne Vertrag die Europäische Union – oder es erklärt bis dahin doch noch die Teilnahme an der EU-Parlamentswahl Ende Mai und entschließt sich damit für einen längeren Verbleib in der Union; wie lange ein solcher Aufschub dauern würde, blieb offen, doch hieß es am Rande, Großbritannien wäre dann mindestens bis Ende 2019 EU-Mitglied.

Merkel und Macron in verschiedenen Lagern

Auf das neue Angebot konnten sich die Regierungschefs erst nach heftiger Kontroverse verständigen. Zeitweise hieß es, die Einigkeit der 27 EU-Staaten beim Brexit sei zum ersten Mal ernsthaft gefährdet – auch Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Kanzlerin Angela Merkel standen in unterschiedlichen Lagern.

Macron wollte es auf einen chaotischen Brexit ankommen lassen, wenn das Austrittsabkommen nächste Woche erneut im britischen Unterhaus scheitert. Merkel soll Macron dann bei einem Gespräch am Rande des Gipfels unter vier Augen gewarnt haben, sie würden sich vor der Geschichte verantworten müssen, wenn sie einen chaotischen Brexit zuließen. Die Kanzlerin sprach später von einer „sehr intensiven und ehrlichen Diskussion“. Sie fügte hinzu: „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet und wünschen uns nach wie vor einen geordneten Brexit.“

May wollte Verschiebung bis zum 30. Juni

Ausgangspunkt der Entscheidung war die Bitte von Premierministerin May, den Brexit bis zum 30. Juni zu verschieben, um doch noch einen geregelten Austritt auf der Basis des vereinbarten Abkommens zu organisieren. Dem Antrag hätten alle EU-Regierungschefs zustimmen müssen. May gelang es aber nicht, die Runde davon zu überzeugen, dass sie nächste Woche im Unterhaus eine Mehrheit für das Austrittsabkommen erhalten könne.

May ließ erkennen, dass sie bei einem erneuten Scheitern einen harten Brexit in Kauf nehmen würde – genau das, was die große Mehrheit der EU-Regierungschefs auf jeden Fall vermeiden möchte. Teilnehmer beschrieben die Premierministerin beim Gipfel als schmallippig und verschlossen, was das ohnehin grassierende Misstrauen noch erhöht haben soll.

Die Antwort ist eine deutliche Abfuhr für sie: Die Premierministerin hatte einen dreimonatigen Aufschub ohne Bedingungen gefordert – die Regierungschefs räumten nur zwei Wochen ein. Damit ist ein ungeregelter EU-Austritt ohne Vertrag Ende kommende Woche abgewendet, zugleich bekämen Kritiker von Mays Kurs die Chance, kurzfristig eine Wende herbeizuführen.

Unter diesen Umständen könnte die EU-Wahl angefochten werden

Die EU übernimmt damit die Regie, die der Premierministerin entglitten ist: Diplomaten erklärten, der Beschluss könne im britischen Unterhaus jetzt eine neue Allianz von Teilen der konservativen Tories und der Opposition fördern, die eine engere Anbindung an die EU wollen oder ein zweites Brexit-Referendum befürworten.

Die Befristung bis zum 12. April ist bewusst gewählt: Bis dahin müsste in Großbritannien nach den geltenden Regeln eine Wahlteilnahme in die Wege geleitet sein; das EU-Parlament wird vom 23. bis 26. Mai gewählt. Die EU will unter allen Umständen vermeiden, dass Großbritannien zu diesem Zeitpunkt noch der Union angehört, ohne das Europa-Parlament mitzuwählen; es werden für einen solchen Fall hohe rechtliche Risiken befürchtet, die Wahl könnte angefochten werden.

Brexit bereitet Spediteuren Kopfzerbrechen

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    May erklärte sich mit dem Verfahren einverstanden; an den stundenlangen Beratungen der anderen Regierungschefs durfte sie nicht teilnehmen, doch wurde sie von Ratspräsident Donald Tusk immer wieder über den Diskussionsstand informiert und um Zustimmung gebeten.

    Tritt May zurück, wenn das Austrittsabkommen wieder scheitert?

    Die Abgeordneten im britischen Parlament würden nun die Alternativen kennen, zwischen denen sie zu entscheiden hätten, sagte May nach der Sitzung. Die Entscheidung unterstreiche die Notwendigkeit, dass das Unterhaus jetzt den Brexit-Vertrag beschließe und die Unsicherheit beende.

    Sie betonte, nach ihrer Auffassung sei es nicht richtig, wenn in Großbritannien EU-Parlamentswahlen abgehalten würden. May lehnte auch eine Rücknahme des Brexit-Antrags ab. Die Premierministerin hat schon klar gemacht, dass sie für eine längere Verschiebung des Austritts-Datums nicht zur Verfügung steht. Wählt Großbritannien diese Lösung als Ausweg, müsste ein neuer Premierminister die Geschäfte übernehmen. Spekuliert wird bereits, dass May zurücktreten könnte, wenn das Austrittsabkommen nächste Woche ein drittes Mal scheitern sollte.

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