Berlin. Um den Personalmangel in Kliniken und Altenheimen zu lindern, will die Regierung die Zahl der Azubis deutlich steigern. Reicht das?

Jens Spahn hat keine Kinder, aber er stellt sich manchmal vor, wie es ist, wenn Teenager beim Abendbrot über ihre Berufswünsche reden. Der Gesundheitsminister spielt den Dialog kurzerhand mal vor: „Mama, ich will Altenpfleger werden“, sagt der Teenager. Und die Mutter schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Oh, Gott. Wie reden wir dem Kind das wieder aus?“

So oder so ähnlich könnte es zugehen, glaubt Spahn. Vor allem dann, wenn diese Mutter selbst bereits Erfahrungen als Altenpflegerin gemacht habe.

Arbeitsbedingungen für Pfleger oft schlecht

Damit kein Missverständnis entsteht: Spahn will für die Altenpflege werben. Er ist auf der Seite des Teenagers. Aber er versteht auch die Mutter. Und er spielt solche Szenen deshalb vor, weil er weiß, dass der Pflegenotstand nicht nur über Geld und Gesetze zu bekämpfen ist: Die Pflege braucht ein besseres Image. Doch ein besseres Image bekommen Berufe nur dann, wenn die Leute gute Erfahrungen damit machen.

Das ist das Kernproblem der Pflege: Es ist inzwischen sehr schwer, gute Erfahrungen als Pfleger zu machen. Weil die Arbeitsbedingungen oft schlecht sind – und weil es für einen derart anstrengenden und verantwortungsvollen Beruf zu wenig Geld gibt. Das gilt nicht nur für die Altenpflege. Das gilt, wenn auch nicht ganz so dramatisch, auch für die Krankenpflege.

Was plant die Regierung?

Genau ein Jahr Zeit haben sich der CDU-Mann Spahn und seine beiden SPD-Ministerkollegen Franziska Giffey (Familie) und Hubertus Heil (Arbeit) genommen, um dem Land eine Lösung für den Personalmangel in der Pflege zu geben. „Das Thema ist zu groß, als dass es einer allein bewältigen könnte“, weiß Giffey. Mit im Boot bei der „konzertierten Aktion Pflege“ sind neben der Regierung auch die Länder, die Arbeitgeber und Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände und Kirchen, Krankenkassen und Betroffenenverbände.

Ziel ist es, bis Sommer 2019 fertig zu sein. An diesem Montag zogen die drei Minister eine Zwischenbilanz. Das wichtigste Ergebnis: Bis zum Jahr 2023 soll die Zahl der Azubis in der Pflege um zehn Prozent erhöht werden. „Das ist eine messbare Zahl“, betonte Spahn. Heißt: Wir legen uns fest, ihr könnt uns in vier Jahren daran messen.

Wie groß ist die Personalnot in der Pflege?

Sie ist jetzt schon überall spürbar: Auf 100 offene Stellen in der Altenpflege kommen 26 arbeitslos gemeldete Pflegefachkräfte, in der Krankenpflege sind es 60. In der Summe bedeutet das: Derzeit fehlen in Deutschland rund 38.000 Pfleger. Und die Lücke wächst. Die Bundesregierung rechnet damit, dass die Zahl der Pflegebedürftigen von heute 3,3 Millionen Menschen bis zum Jahr 2050 auf insgesamt 5,3 Millionen wachsen dürfte.

Um die Bedeutung der Pflege für den Arbeitsmarkt sichtbar zu machen, stellt Familienministerin Giffey gerne die Beschäftigtenzahlen nebeneinander: Demnach sind in Pflegeeinrichtungen rund 1,1 Millionen Menschen beschäftigt, in der Automobilindustrie sind es rund 860.000 und in der Stahlindustrie gerade mal 73.000. Beim Durchsetzen von Interessen, bei der gewerkschaftlichen Organisation, bei der Lautstärke der eigenen Forderungen dagegen sind die Verhältnisse genau umgekehrt.

Woher sollen neue Pfleger kommen?

Es gibt viele Möglichkeiten, den Personalmangel zu beheben. Vier davon sind in den Augen des Ministertrios erfolgversprechend: Sie wollen Fachkräfte, die dem Beruf den Rücken gekehrt haben, wieder zurückholen. Sie wollen zudem Beschäftigte aus anderen Branchen umschulen – und dazu 5000 Plätze in der Weiterbildung schaffen, um Menschen für die Pflege zu qualifizieren oder den Umstieg dahin zu ebnen. Die Minister wollen außerdem noch mehr Pfleger aus dem Ausland holen.

Die wichtigste Stellschraube aber soll die Ausbildung bleiben: Zwar sind die Azubi-Zahlen seit 2012 von rund 60.000 auf 68.000 gestiegen – doch das reicht nicht. Zumal viele zwar die Ausbildung beginnen, aber zum Teil schon nach wenigen Monaten im Job frustriert das Weite suchen. Zehn Prozent mehr Azubis – das heißt deswegen noch lange nicht, dass damit auch zehn Prozent mehr Pflegefachkräfte dauerhaft bereit sind, in ihrem Beruf zu arbeiten.

Hoffnung setzen die drei deswegen auf die Reform der Pflege-Ausbildung, die im Jahr 2020 startet: Im Rahmen der sogenannten generalistischen Ausbildung werden Alten, Kranken- und Kinderkrankenpflege zusammengelegt – es besteht aber nach wie vor die Möglichkeit, sich später zu spezialisieren. Und: Das bisher fällige Schulgeld fällt weg.

© dpa | Bernd von Jutrczenka

Werden Pfleger in Zukunft besser bezahlt?

Die Löhne sind der springende Punkt: „Es ist ein toller Job, aber mehr Attraktivität für junge Leute kriegen wir nur hin, wenn die Gehaltsbedingungen stimmen“, weiß Arbeitsminister Heil. Das Problem: Bei den Altenpflegern arbeiten nur 20 Prozent in tarifgebundenen Betrieben. Das ist zu wenig, um in der Branche einen gemeinsamen Tarifvertrag allgemeinverbindlich einzuführen.

Mit Blick auf die Arbeitgeber am Tisch der gemeinsamen Pflege-Aktion zog Heil am Montag sanft die Daumenschrauben an: „Klar, die Politik setzt keine Löhne fest. Wenn wir aber bis zum Sommer keine Antwort haben, dann wird es, vorsichtig gesagt, Fragen geben.“

Spahn wurde deutlicher: Der tarifliche Wildwuchs sei nicht länger hinnehmbar. Es sei schlicht nicht akzeptabel, dass es regionale Lohnunterschiede von mehreren Hundert Euro gebe. Und damit erst niemand auf den Gedanken komme, an dieser Stelle einen Keil zwischen Union und SPD treiben zu können, sage er es noch mal deutlich: „Wir sind da koalitionär wild entschlossen.“

Kommentar: Der Pflegenotstand ist ein ethisches Versagen mit Ansage

Kommen demnächst mehr Pfleger aus dem Ausland?

Gesundheitsminister Spahn setzt ausdrücklich darauf: „Ich tippe mal, dass einige Tausend Leute, die in Deutschland als Pfleger arbeiten wollen, gerade irgendwo auf der Welt im Visa-Verfahren hängen.“ Doch die Einwanderungsregeln sind nicht das einzige Problem bei der Fachkräfte-Zuwanderung. Sprachprobleme, die Anerkennung ausländischer Abschlüsse, Nachschulungen für die spezifischen Anforderungen auf deutschen Pflegestationen – alles das muss geregelt werden.

Spahn bemüht sich deswegen um bilaterale Kooperationen mit Ländern, die anders als Deutschland eine eher junge Bevölkerung haben. Denn: „Es müssen Länder sein, denen wir nicht auf diese Weise die eigenen Fachkräfte abziehen, es muss einen Mehrwert für beide Seiten haben.“

Die gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) warnen seit Langem vor der Illusion, das Pflegeproblem allein durch ausländische Kräfte lösen zu können. Im Kern, heißt es dort, müsse Deutschland seine Hausaufgaben selbst machen.

Die Pflege-Expertin der Linken, Pia Zimmermann, mahnte die Bundesregierung, sich dabei nicht nur auf die Personalgewinnung zu konzentrieren: „Die versprochene Ausbildungsoffensive wird völlig wirkungslos bleiben, wenn sich nicht gleichzeitig die Arbeitsbedingungen in der Pflege verbessern.“ Für alle Bereiche der Pflege müssten gesetzliche Personalschlüssel festgelegt werden.