Berlin. Vor 100 Jahren durften Frauen in Deutschland erstmals wählen. Der Kampf um die gleichen Rechte war hart – und dauert bis heute noch an.

Für ein Geschenk hielten sie ihr neues Recht kaum. Als Frauen in Deutschland vor 100 Jahren zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur an einer Parlamentswahl teilnehmen, sondern sich auch selbst wählen lassen durften, da sahen ihre Wortführerinnen wenig Grund zur Dankbarkeit.

Es war der 19. Februar 1919, als im Berliner Reichstag die erste Rednerin einer Volksvertretung, Marie Juchacz, ans Pult trat, genau einen Monat nach ihrer Wahl in die Verfassungsgebende Nationalversammlung, die nach dem Ende der Monarchie das Deutsche Reich neu aufzustellen hatte – jetzt mit weiblicher Beteiligung.

„Meine Herren und Damen“, so kehrte die Sozialreformerin, die zwei Monate zuvor die Arbeiterwohlfahrt gegründet hatte, in ihrer Begrüßung des Parlaments die übliche Floskel einfach um. Das Protokoll vermerkt an der Stelle „Heiterkeit“.

Einführung des Frauenwahlrechts als „selbstverständliche Pflicht“

Gleich zu Beginn ihrer Rede machte Juchacz der provisorischen Regierung, die das Wahlrecht für Frauen kurz zuvor eingeführt hatte, ihre Sicht auf die Neuerung klar: Damit habe jener Rat der Volksbeauftragten, allesamt Sozialdemokraten oder Sozialisten, lediglich „eine für jeden gerecht denkenden Menschen und für jeden Demokraten selbstverständliche Pflicht erfüllt“.

Die Regierung habe den Frauen nur gegeben, „was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten“ worden sei.

Mit anderen Worten: Es sei eine Selbstverständlichkeit. Heute ist sie längst als solche allseits anerkannt. Vor 100 Jahren keineswegs. Obwohl die Frauen im Zuge der Industriellen Revolution und zuletzt besonders während vier Kriegsjahren in Lohnarbeit und öffentlichem Geschehen präsenter waren denn je.

Unter dem Wort „alle“ verstand man nur die Männer

Ganz allgemein war im Jahr 1919 das Wahlrecht auch für Männer – über größere Zeiträume betrachtet – noch nicht besonders alt. Jedenfalls nicht in durchgreifender Weise, die Macht des Monarchen war auch dort, wo es Parlamente gab, im 19. Jahrhundert noch weitgehend unerschüttert.

Frauenrechtlerinnen hatten sich daher zunächst die grundsätzliche Aufwertung der Frau in Gesellschaft und Familie auf ihre Fahnen geschrieben, vor allem über den Zugang zu Bildung und Ausbildung.

Immerhin, als 1848 einmal mit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche für ein paar Monate ein Pflänzchen der Demokratie blühte, da schrieb die Frühsozialistin und Philosophin Louise Dittmer: „Wohl spricht man viel von Freiheit für alle, aber man ist gewöhnt, unter dem Wort ‚alle‘ nur die Männer zu verstehen.“

Frauen hatten kein Versammlungsrecht

Zu der Zeit bestand die Selbstverständlichkeit eben noch darin, dass die Abgeordneten für die Paulskirche nur von Männern gewählt wurden.

Frauen war es damals in den meisten deutschen Ländern überhaupt untersagt, sich in politischen Verbänden zu organisieren, sie hatten kein Versammlungsrecht. Was viele nicht davon abhielt, sich trotzdem zu organisieren.

Selbst Zuhören war verboten

Doch noch 1870 passierte den Preußischen Landtag ein Gesetz, das „Vereinen, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern“, ganz klar vorschrieb: „Sie dürfen keine Frauenspersonen (…) aufnehmen“.

Auch Zuhören war verboten: „Frauenspersonen (…) dürfen den Versammlungen solcher Vereine nicht beiwohnen“. Bei Strafe der Vereinsauflösung. 38 Jahre hatte das Gesetz Bestand, bis Mai 1908.

„Über das Stimmrecht geht der Weg der Selbstständigkeit“

Als mit Gründung des Deutschen Reiches 1871 das „allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime“ Wahlrecht eingeführt wurde – trotz anhaltend starker Macht des Kaisers –, da wurden die Frauen konkreter.

Hedwig Dohm, erste Theoretikerin des Feminismus, appellierte 1873 an ihre Geschlechtsgenossinnen: „Fordert das Stimmrecht, denn über das Stimmrecht geht der Weg der Selbstständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau.“

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Zunächst wurde nur das passive Wahlrecht gefordert

Dabei war die Forderung noch vergleichsweise bescheiden, bedeutet „Stimmrecht“ doch lediglich das aktive Wahlrecht. Das passive dagegen, das den eigenen Sitz im Parlament ermöglicht hätte, wäre damit nicht erreicht.

Gleichwohl gab im Jahr 1907 dann die radikale Frauenrechtlerin Anita Augspurg – studierte Juristin, Lesbe, Vegetarierin – sogar ein Monatsmagazin mit dem Titel „Frauenstimmrecht“ heraus.

Im selben Jahr organisierte die damals noch der SPD angehörende Clara Zetkin die „Erste Internationale sozialistische Frauenkonferenz“.

Dort forderte sie zwar ebenso das Frauenwahlrecht, doch galt für die spätere orthodoxe Kommunistin damals schon das Pro­blem mangelnder Gleichberechtigung als nur lösbar durch die Überwindung des Kapitalismus, ganz nach der Lehre des „Dialektischen Materialismus“ von Karl Marx: „Nicht die kleinlichen Augenblickinteressen der Frauenwelt dürfen wir in den Vordergrund stellen, unsere Aufgabe muss es sein, die moderne Proletarierin in den Klassenkampf einzureihen!“

„Wir sind Teil dieses Volkes“

Die Frauenfrage, wenngleich erkannt, wurde zum „Nebenwiderspruch“ – ein Begriff, der noch in den 1970er- und 1980er-Jahren manche Debatte zwischen radikallinken Studentenführern und eingefleischten Feministinnen scharf anwürzte.

Selbstverständliches Menschenrecht oder Nebenwiderspruch – dies war nur ein Dissens von vielen auch unter den Frauen selbst, die das eigene Wahlrecht einforderten. Oft ging es darum, wie weit man überhaupt gehen wollte.

Als 1849, noch unter dem Eindruck des Paulskirchen-Intermezzos, die Vorkämpferin Louise Otto in der von ihr selbst herausgegebenen „Frauen-Zeitschrift“ verlangte, „dass Frauen bei denjenigen Gesetzen, welche sie selbst betreffen, eine Stimme haben“, und dies auch bei der Wahl von Volksvertretern, „denn wir sind ein Teil dieses Volkes“ – da räumte sie sogleich ein, dass sich eine Frau „nicht zur Besetzung eines Staatsamtes eignen würde“, so wenig wie als Schlossermeister oder als Schmied.

„Mangelnde Reife der Frauen“

Eine Bescheidenheit, die im bürgerlichen Spektrum der Frauenbewegung bis zum Ende der Kaiserzeit immer mal wieder aufkam, auch wenn sich andere auf das „urgermanische Recht“ der Frau, öffentlich politisch Stellung zu beziehen, beriefen.

Der Deutsch-Evangelische Frauenbund etwa grenzte noch 1903 seine Stimmrechtsforderung auf die kommunale Ebene ein – begründet mit der „noch vielfach mangelnden Reife der Frauen“, die sie „mit Sicherheit“ zu einer „im höchsten Grade bedenklichen Stärkung der staatsfeindlichen Parteien“ verleiten würde.

Die Vorkämpferinnen sahen ihr Spezialgebiet im Sozialen

Es kam anders. Die Frauen durften 1919 auch an der Wahl auf höchster Ebene, dem Reichstag, teilnehmen, aktiv wie passiv, was sie auch taten: Mehr als 80 Prozent der wahlberechtigten Frauen gaben 1919 ihre Stimme ab, 300 Frauen kandidierten, 37 wurden in die Nationalversammlung gewählt.

Nichtsdestotrotz formulierten selbst ihre Vorkämpferinnen weiterhin die weibliche Sonderrolle, die nicht nur in den Jahren vorher die Debatte bestimmt hatte, sondern ihnen bis weit in die 1970er-Jahre vorbehalten blieb.

Gesundheit, Familie, Jugend, das waren die Ressorts der ersten – spärlichen – Ministerinnen in Bonn. Marie Juchacz erklärte die Sonderrolle gleich in jener ersten Rede zum Programm: „In allererster Linie“ sah sie den weiblichen Aufgabenbereich „bei der Witwen- und Waisenfürsorge, bei der Regelung der Fürsorge für Kriegshinterbliebenen“.

Das sei ein Gebiet, „in welches die Frauen einfach hineinpassen und hineingehören“. Ihr „Spezialgebiet“ sei ganz allgemein „die gesamte Sozialpolitik, einschließlich des Mutterschutzes“ – für „das weibliche Geschlecht besonders gut geeignet“.

Auch sozialdemokratische Männer hatten ihren Anteil am Frauenwahlrecht

Spezialgebiete oder nicht: Die Frauen hatten 1919 einen Sieg errungen, auch wenn deren eigene Rolle dabei unterschiedlich bewertet wird. Ute Rosenbusch etwa schreibt in ihrer Dissertation „Der Weg zum Frauenwahlrecht in Deutschland“: „Vielmehr war es allein die Gunst der revolutionären Stunde, war es der Zufall, dass die verfassunggebende Gewalt gerade in der Hand der Sozialdemokratie lag.“

Diese Sicht blendet natürlich den Druck der Frauen aus genauso wie den „Zug der Zeit“ im damaligen Nachkriegseuropa. Allerdings hatten auch sozialdemokratische Männer ihren Anteil am neuen Denken. Allen voran Parteichef August Bebel mit seinem richtungsweisenden Buch „Die Frau und der Sozialismus“. Hat sich die Kampagne aber für die SPD ausgezahlt?

Entscheidung für das Frauenwahlrecht verpasste der SPD einen Dämpfer

So genau wusste 1919 niemand, was die Neu-Wählerinnen wirklich wollten. Juchacz, die erste Rednerin, war selbst SPD-Mitglied, entsprechend wird sie ihr Kreuzchen gesetzt haben. Nicht anders, so könnte man meinen, als die meisten Frauen, wo doch die konservativen Parteien beim Thema Emanzipation eher zögernd aufgestellt waren.

Eine Sichtweise, die dem landläufigen Bild vom gemeinsamen Kampf aller Unterdrückten entspricht. Doch Frauen und Arbeiterklasse Hand in Hand – dieses Bild stimmt so nicht.

Tatsächlich haben die sechs Herren aus der SPD und dem linken Ableger, der USPD, am 30. November 1918 mit ihrer Entscheidung fürs Frauenwahlrecht dem aufstrebenden linken Lager einen Dämpfer verpasst.

Nutznießer waren die konservativen Parteien

Nutznießer waren die konservativen Parteien. Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und ihre Genossen waren davon nicht überrascht, dennoch waren sie von der Notwendigkeit überzeugt.

In unseren Tagen wird man da – im Kleinen – an die „Agenda 2010“ von Gerhard Schröder 80 Jahre später erinnert, ein ebenfalls „alternativloses“ Projekt, das die SPD einige Wählerstimmen kostete. Am neuen Wahlrecht von 1918/19 aber sollte die Partei lange Jahrzehnte zu knabbern haben.

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