Hannover. Niedersachsens Ministerpräsident und SPD-Hoffnungsträger Stephan Weil über Parteichefin Nahles, den Soli-Abbau und mehr Mindestlohn.

Gut gelaunt empfängt Stephan Weil seine Besucher in seinem Büro in der Staatskanzlei in Hannover. Im Regal steht neben zahlreichen ­Niedersachsen-Miniatur-Pferdchen ein Wimpel von Hannover 96. Weil ist oft im Stadion, der Club muss in der Bundesliga auf einem Abstiegsplatz überwintern. So ähnlich geht es auch der SPD.

Ministerpräsident Weil, der mit der CDU regiert, gilt als potenzieller Kanzlerkandidat und Parteichef. Er ist bodenständig und hat zwei Wahlen gewonnen. Den mit Selbstzweifeln behafteten Blick von Andrea Nahles in den Hartz-IV-Rückspiegel hält er für falsch.

Sie sind gerade 60 geworden. Was hat die Partei Ihnen geschenkt?

Stephan Weil: Die SPD hat mich mein ganzes Leben lang beschenkt. Da gab es zum 60. nichts Besonderes (lacht).

Viel gibt es in der SPD ja nicht zu feiern – droht die Sozialdemokratie zu verschwinden?

Weil: 2018 war ein schwarzes Jahr für die SPD, die Umfragewerte sind nach wie vor miserabel. Wir müssen im nächsten Jahr die Kurve kriegen. Dafür werden wir alle sehr hart arbeiten müssen.

Der Neustart mit Andrea Nahles ist verpufft. Sie hat unerklärliche Fehler in der Maaßen-Affäre gemacht, sie wirkt ratlos. Ist sie noch die richtige Vorsitzende?

Weil: Der Jahreswechsel ist ein guter Zeitpunkt, sich Vorsätze zu geben, was besser werden muss. In Umfragen sagt eine Mehrheit, sich vorstellen zu können, die SPD zu wählen. Warum tun sie das derzeit aber nicht? Weil der SPD – so antworten viele – derzeit ein klares Profil fehlt. Das müssen wir dringend hinbekommen. Dann können wir auch wieder Erfolge feiern. Personaldebatten bringen uns dabei aber sicher nicht weiter.

Von Hartz IV bis Umfragetief – Andrea Nahles in 60 Sekunden zur SPD

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    Viele in der SPD sehnen sich nach souveräner, mutiger Führung – und schauen nach Hannover.

    Weil: Danke für die Blumen. Ich fühle mich in der Landespolitik ausgesprochen wohl.

    Aber regiert sich die SPD nicht zu Tode?

    Weil: Wir müssen in Berlin lauter und klarer werden, damit die Bürger hören und sehen, was wir tun und durchsetzen. Die SPD muss aber mehr machen, als nur gut zu regieren. Wir müssen verständlich machen, was wir auf Sicht wollen und warum die SPD unserer Gesellschaft guttut. Das meine ich mit dem Profil, das uns derzeit fehlt.

    Andrea Nahles will Hartz IV überwinden und Sanktionen streichen.

    Weil: Hartz IV ist zu großen Teilen unbestritten. Niemand will doch die Sozialhilfe oder das alte Arbeitsamt zurückhaben. Aber natürlich gibt es nach fünfzehn Jahren Reformbedarf. Die Lebensleistung muss besser berücksichtigt werden.

    Menschen, die länger als andere in Sozialkassen eingezahlt haben, sollen es besser haben. Diesen Gedanken unterstütze ich ausdrücklich. Und natürlich müssen wir Kinderarmut besser bekämpfen als bisher.

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    Der öffentliche Eindruck ist, der Traumapatient SPD liegt bei Hartz IV seit 15 Jahren auf der Couch.

    Weil: Wir reden eher zu viel über Hartz IV und eher zu wenig über fleißige Menschen mit kleinem Einkommen. Es gibt viele Bürger, die arbeiten hart in Vollzeit und haben kaum mehr Geld zur Verfügung als die Empfänger von Transferleistungen.

    Mir hat kürzlich eine Friseurin mit 9,50 Euro Stundenlohn geschrieben und vorgerechnet, was übrig bleibt. Ihre Verbitterung kann ich gut verstehen, da müssen wir ran.

    Wenden sich diese Menschen dann vom Staat ab und werden leichte Beute der AfD?

    Weil: Ich bin bei dieser Frage deutlich sensibler geworden. Millionen Menschen fragen sich, ob sie mit ihrer Leistung vom Staat eigentlich hinreichend wahrgenommen werden. Diesen Zweifeln sollten wir uns stellen.

    Was will die SPD konkret tun, um den Frust über „die da oben“ zu mildern?

    Weil: Weniger über eigene Befindlichkeiten diskutieren und mehr über die Alltagsprobleme von Bürgern. In einer Sprache reden, die nicht nur Politiker, sondern vor allem auch Bürger verstehen. Und vor allem: Probleme nicht nur beschreiben, sondern lösen.

    Im Jahr 2020 wird der Mindestlohn politisch neu bewertet. Wäre das ein guter Zeitpunkt, in die Vollen zu gehen?

    Weil: Es muss einen Abstand geben zwischen Menschen, die hart arbeiten, und solchen, die aus guten Gründen staatliche Unterstützung kriegen. Ich halte es für angebracht, dass es 2020 beim Mindestlohn einen größeren Schluck aus der Pulle gibt.

    Also den Mindestlohn von 9,19 auf 12 Euro anheben. Oder geht da noch mehr?

    Weil: Ich weiß, dass eine Mindestlohnkommission normalerweise kleinere Schritte festlegt und die Politik sich so weit wie möglich heraushält. Aber die 8,50 Euro zum Start waren auch eine politisch gewollte Marke. Ich will mich jetzt nicht auf den letzten Cent festlegen. Aber 12 Euro werden es schon sein müssen. Realistisch ist das aber wohl nur nach den nächsten Wahlen.

    Muss auch das Steuersystem gerechter werden?

    Weil: Auch da müssen wir ran. Wir haben zwar im Koalitionsvertrag einen Kompromiss mit der Union vereinbart. Aber das kann nicht das letzte Wort gewesen sein.

    Ich plädiere schon lange dafür, den Soli schneller abzubauen, die kleinen und mittleren Einkommen deutlich zu entlasten und den Spitzensteuersatz maßvoll zu erhöhen, damit der Abstand nicht noch größer wird. Das wäre einmal eine Steuerreform, die Hand und Fuß hat.

    Mal schauen, ob Finanzminister Olaf Scholz sich das zu eigen macht. Der Bund hortet Milliardenüberschüsse.

    Weil: Mit Olaf Scholz ist da sicher viel zu machen, aber wohl nicht mit der Union. Richtig wäre, den ab 2021 in zwei Stufen vereinbarten Abbau des Solidaritätszuschlags für 90 Prozent der Steuerzahler schneller anzugehen.

    Dafür sind Spielräume da. Vor allem Arbeitnehmer mit kleinen und mittleren Einkommen würden unmittelbar spüren, dass der Aufschwung auch bei ihnen ankommt.

    Schnelles Internet und viele Computer für die Schulen – raufen sich Bund und Länder beim Digitalpakt endlich zusammen?

    Weil: Die Politik läuft hier wieder einmal Gefahr, dass die Bürger sie gar nicht verstehen können. Im Grunde geht es um eine simple Frage: Der Bund will fünf Milliarden an die Schulen bringen. Das wird ja wohl noch möglich sein.

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      Aber es gibt einige Bundespolitiker, die wollen diesen Punkt nutzen, um die Kräfteverhältnisse zwischen Bund und Ländern insgesamt zu verschieben. Das wird nicht passieren.

      Und es gibt Länderkollegen von mir, die wollen dem Bund jede Mitwirkung untersagen. Das kann es auch nicht sein. Wenn alle vernünftig sind, können wir einen Kompromiss erreichen. Niedersachsen ist dazu bereit.

      Sie sitzen im VW-Aufsichtsrat. Sind die schärferen EU-CO2-Ziele eine Gefahr für den Industriestandort Deutschland?

      Weil: Ich mache jedes Klimaziel gerne mit, für dessen Umsetzung es einen realistischen Plan gibt. Den sehe ich derzeit aber nicht. Stattdessen gehen wir eine gefährliche Wette ein: Wie schnell wird es in den nächsten zwölf Jahren gelingen, Millionen von Verbrennungsmotoren durch neue Elektrofahrzeuge zu ersetzen? Gegenstand dieser Wette sind Hunderttausende von Arbeitsplätzen. Klimaschutz braucht am Ende aber gesellschaftliche Akzeptanz.