Viele junge Türken flüchten vor Erdogan ins Ausland
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Von Gerd Höhler
Athen/Ankara. Gut ausgebildete Menschen kehren der Türkei aus politischen Gründen den Rücken. Erdogan droht der Verlust enorm wichtiger Fachkräfte.
Hasan arbeitet als Software-Ingenieur in der türkischen Niederlassung eines ausländischen Konzerns, spricht fließend Englisch und Deutsch. Der 35-Jährige verdient gut für türkische Verhältnisse und muss sich keine Sorgen um seinen Job machen.
Dennoch hat er jetzt gekündigt. Er will die Türkei verlassen. „Ich sehe für mich und meine Kinder hier keine Zukunft“, sagt der zweifache Vater beim Treffen im Café Destan im Istanbuler Stadtteil Ortaköy.
Seinen vollen Namen will Hasan nicht nennen, „um mich und meine Familie nicht in Schwierigkeiten zu bringen“, wie er sagt. Auslöser für den Entschluss das Land zu verlassen, war die Einführung des Präsidialsystems nach den Wahlen vom vergangenen Juni.
Viele Türken drehen Erdogan den Rücken zu
„Mit Demokratie hat das nicht mehr viel zu tun, unsere individuellen Freiheitsräume werden immer kleiner, man muss immer vorsichtig sein mit dem, was man mit Kollegen diskutiert oder in sozialen Netzwerken äußert“, klagt Hasan. „Ich möchte nicht, dass meine Söhne im Polizeistaat aufwachsen müssen.“
Hunderttausende Türken protestieren
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Viele Türken denken wie Hasan. Belastbare Zahlen zur Auswanderung gibt es nicht. Aber nach einer Studie der Oppositionspartei CHP haben im vergangenen Jahr 113.326 Menschen die Türkei verlassen, 63 Prozent mehr als im Vorjahr.
Andere Schätzungen gehen in eine Größenordnung von 250.000. In diesem Jahr dürfte die Zahl weiter angestiegen sein, als Reaktion auf Erdogans Wahlsieg im Juni und den wirtschaftlichen Abschwung, der im Sommer einsetzte.
Viele stört die Islamisierung des Bildungssystems
Der typische türkische Auswanderer ist zwischen 20 und 35 Jahre alt. Die Mehrheit kommt aus den Ballungsräumen Istanbul, Ankara und Izmir. Fast die Hälfte sind Frauen, so die Studie der CHP. Die Auswanderer sind überwiegend gut ausgebildete Fachkräfte, vor allem aus der IT-Branche, aber auch Ärzte und Akademiker.
Die meisten verlassen das Land nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil sie und ihre Familien sich mit dem System Erdogan nicht anfreunden können.
Eine große Rolle spielt dabei die Islamisierung des türkischen Bildungswesens. So darf die Evolutionstheorie an türkischen Schulen nicht mehr gelehrt werden. Während die Naturwissenschaften im Lehrplan vernachlässigt werden, nimmt der islamische Religionsunterricht eine immer größere Rolle ein.
Immer werden normale Schulen werden zu Religionsschulen
Wenige Tage vor der Wahl im Juni versprach Erdogan auf einer Massenkundgebung in Istanbul, sein Ziel sei es, „eine fromme Generation von Muslimen heranzuziehen“. Seit Erdogans erstem Wahlsieg 2002 hat sich die Zahl der Imam-Hatip-Schulen, der Religionsgymnasien, von 450 auf 4500 verzehnfacht.
Immer mehr reguläre Schulen werden in Religionsschulen umgewandelt. Aus dem Etat des Erziehungsministeriums bekommen sie durchschnittlich doppelt so viel Geld wie säkulare Gymnasien.
Viele Auswanderer gehen auch unter dem Druck unmittelbarer Verfolgung. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 ließ Erdogan per Dekret über 6000 Professoren und 20.000 Lehrer feuern.
Die Karriere von Recep Tayyip Erdogan
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Auch zweieinhalb Jahre später gehen die Säuberungen mit unverminderter Härte weiter. Keine Woche vergeht ohne neue Festnahmen mutmaßlicher Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen, den Erdogan als Drahtzieher hinter dem Umsturzversuch vermutet.
Viele versuchen, sich durch Auswanderung einer drohenden Verfolgung zu entziehen. Seit März hat sich die Zahl der Asylsuchenden aus der Türkei in Nordrhein-Westfalen mehr als vervierfacht. Nachdem im ersten Quartal 2018 560 politische Flüchtlinge aus der Türkei in NRW registriert wurden, waren es im dritten Quartal bereits 2494.
Abwanderung könnte zum Problem für die Türkei werden
Der Grund für den Anstieg sei „klar und traurig zugleich“, sagte NRW-Integrationsminister Joachim Stamp dem „Kölner Stadt-Anzeiger“: „Ursachen sind die Politik Erdogans, das Zurückdrängen demokratischer Kräfte, die Beschneidung der Pressefreiheit, die Verhaftung Tausender Menschen und die Entlassung von Zehntausenden vermeintlichen Anhängern der Gülen-Bewegung.“
Dass es viele der besten Talente sind, die jetzt auswandern, könnte für das Land jetzt, wo ein wirtschaftlicher Abschwung eingesetzt hat, zum Problem werden. Der Türkei droht ein Braindrain. Es gebe „eine spürbare Migration“ von Fachkräften ins Ausland, heißt es beim Verband der türkischen Software-Industrie.
Akademiker sollen in die Türkei zurückkommen
In jüngster Zeit sei eine große Zahl junger Software-Entwickler ins Ausland gegangen, und der Trend halte an, so der Verband. Inoffiziell heißt es in der Branche, bereits zehn Prozent der Software-Entwickler hätten das Land verlassen – nicht, weil sie in der Türkei keine Arbeit fänden, sondern „weil sie mehr Freiheit und eine bessere Lebensqualität suchen“, wie ein Branchenexperte sagt.
Staatschef Erdogan appelliert an Akademiker, in die Türkei zurückzukehren. „Ich lade alle ein, mit uns an der Entwicklung der Wissenschaft und der Technologie zu arbeiten“, sagte er im September auf einer Technologie-Konferenz. Rückkehrern versprach er ein Monatsgehalt von umgerechnet 4000 Euro – viel Geld für türkische Verhältnisse.
Viele Festnahmen nach Putschversuch
Dass viele dem Ruf folgen werden, ist nicht zu erwarten. Wenige Wochen nach dem Appell ließ die türkische Justiz 13 prominente Akademiker verhaften. Ihnen wird vorgeworfen, zu den Massenprotesten vom Sommer 2013 angestiftet zu haben.
Unter den Beschuldigten sind der Dekan der Istanbuler Bilgi-Universität, Turgut Tarhanli, und die bekannte Mathematik-Professorin Betül Tanbay. Ihnen werden „staatsfeindliche“ und „terroristische Aktivitäten“ vorgeworfen. Zwar kamen die meisten inzwischen wieder auf freien Fuß, aber die Verhaftungen waren das falsche Signal an mögliche Rückkehrer.
Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion
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