Brüssel. Theresa May hat ein Misstrauensvotum in der Heimat gewonnen. Doch wird weiter verhandelt und die Premierministerin will Zeit gewinnen.

Überstanden, aber nicht gerettet. Im Kampf um den Brexit-Deal wartet auf die britische Premierministerin Theresa May nach dem am Mittwochabend erfolgreich bestandenen Misstrauensvotum gleich die nächste schwere Hürde: Beim EU-Gipfel am Donnerstag in Brüssel will May von den anderen 27 EU-Regierungschefs Zugeständnisse beim Austrittsvertrag abpressen.

Doch die Regierungschefs wollen sich in der Sache hart zeigen und verstärken schon ihre Vorbereitungen für den Fall eines chaotischen Brexit ohne Vertrag. Ein Verdacht kursiert in Brüssel: May wolle mit neuen Gesprächen nur die schwierige Brexit-Abstimmung im Unterhaus möglichst lange hinauszögern. Kann sich die Premierministerin zum Austritt tricksen? Wie es weitergeht, warum die Brexit-Risiken zunehmen:

Wie reagiert die EU auf Mays Überleben?

Ohne Begeisterung. Führende EU-Politiker sind einerseits erleichtert, dass ihnen eine Regierungskrise in London erspart bleibt – andernfalls hätte eine wochenlange Hängepartie gedroht, ein Brexit ohne Vertrag wäre noch wahrscheinlicher geworden. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, amtierender EU-Ratspräsident, erklärte: „Ich freue mich über das Ergebnis.“

EVP-Spitzenkandidat und CSU-Vize Manfred Weber sah in dem Votum ein „Zeichen der Stabilität“. Und der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok, Mitglied im Brexit-Komitee des EU-Parlaments, meinte: „May ist jetzt gestärkt, sie kann unabhängiger agieren, denn das nächste Misstrauensvotum dieser Art ist erst in einem Jahr möglich.“

Am Mittwoch hieß es: Theresa May gewinnt Misstrauensvotum in Regierungspartei, aber 117 Stimmen gegen sie zeigten, wie zerrissen die Tories seien, sagte Brok unserer Redaktion. Der Widerstand im Parlament gegen den Austritts-Vertrag bleibt mit diesem Votum aber bedrohlich. May wird schwer kämpfen müssen, um eine Niederlage noch abzuwenden. In Brüssel herrscht deshalb nicht wirklich Erleichterung, sondern eher nervöse Anspannung. Broks Fazit für den Brexit-Vertrag heißt: „Das Spiel ist noch nicht verloren.“

Empfohlener externer Inhalt
An dieser Stelle befindet sich ein externer Inhalt von einem externen Anbieter, der von unserer Redaktion empfohlen wird. Er ergänzt den Artikel und kann mit einem Klick angezeigt und wieder ausgeblendet werden.
Externer Inhalt
Ich bin damit einverstanden, dass mir dieser externe Inhalt angezeigt wird. Es können dabei personenbezogene Daten an den Anbieter des Inhalts und Drittdienste übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung

Kann May beim EU-Gipfel auf Rettung hoffen?

Nicht wirklich. Die Premierministerin wird beim Gipfeltreffen am späten Nachmittag den anderen 27 Regierungschefs ihre neue Lage schildern – erst die Absage der Brexit-Abstimmung am Dienstag aus Furcht vor einer dramatischen Niederlage, dann das Misstrauensvotum. Dazwischen war Theresa May noch auf Brexit-Rettungsmission bei Angela Merkel.

May erhofft sich von der EU neue Konzessionen zu dem schon fertig vereinbarten Austritts-Vertrag, damit sie für den Deal eine Mehrheit im Parlament bekommt. Es geht vor allem um ein Problem: Der Vertrag sieht vor, dass Großbritannien notfalls unbegrenzt in einer Zollunion mit der EU bleibt.

Trotz Brexit wären die Briten dann an viele Brüsseler Standards gebunden, ihr Spielraum für Verträge mit Drittstaaten wäre begrenzt. Diese Notlösung würde gelten, wenn keine andere Regelung zur Vermeidung von Grenzkontrollen auf der irischen Insel gefunden wird. Darin sehen Brexit-Hardliner die Gefahr einer „ewigen Gefangenschaft“ eng bei der EU.

May hat deshalb am Montag im Unterhaus erklärt, sie wolle von Brüssel rechtlich bindende Zusicherungen, dass eine solche Zollunions-Notlösung („backstop“) nur zeitlich begrenzt wäre – obwohl im Austritts-Vertrag etwas anderes steht.

Die Regierungschefs werden sich May anhören, ihre Antwort beraten wollen sie aber spät am Abend nach dem Dinner. Ohne die Premierministerin. Doch die Ansage ist klar: „Der Austrittsvertrag wird nicht neu verhandelt“ - so haben es in Berlin die Kanzlerin und in Brüssel die Präsidenten von Kommission und Rat bekräftigt. Und es werde keine Zusicherungen geben, die dem Vertrag widersprächen, hieß es am Mittwoch von Diplomaten mehreren Mitgliedstaaten.

Aus Sicht der EU ist eine Notfalllösung ohne Wert, wenn sie ersatzlos auslaufen kann. Beim finalen Vorbereitungstreffen der EU-Botschafter sei die Forderung nach rechtlich bindenden Zusagen zur befristeten Zollunion gar kein Thema gewesen, berichteten Teilnehmer.

Es gebe die Bereitschaft, May im Rahmen der Möglichkeiten zu helfen. Es sei aber nicht klar, wie das gehen könne. Die Premierministerin habe auch bei ihrer verzweifelten Betteltour durch EU-Hauptstädte diese Frage nicht klar beantwortet. Viel hängt deshalb jetzt von ihrem Auftritt beim Gipfel ab.

Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

Wahrscheinlich bieten die 27 EU-Regierungschefs ihrer Kollegin May eine zusätzliche Erklärung an, in der sie noch einmal extra zusichern, dass die Notfalllösung mit der Zollunion wirklich nur für den Notfall gedacht ist. Ziel sei ja ein dauerhafter Vertrag zu Handel und enger Partnerschaft, der eine solche Lösung gerade überflüssig machen solle, erklärten hohe Diplomaten mehrerer EU-Staaten in offenbar abgestimmten Formulierungen.

„Wir sind bereit, dass gern noch einmal auszuführen und präziser in Worte zu fassen“, wurde auch in Regierungskreisen in Berlin versichert. Der CDU-Politiker Brok mahnt: „Der EU-Gipfel muss beim Streitpunkt Zollunion mit großem Nachdruck deutlich machen, dass auch die EU eine solche Lösung überhaupt nicht anstrebt.

Auch die EU will nicht, dass der backstop zur Anwendung kommt – das muss glaubwürdig vermittelt werden, um die Vorwürfe von Brexit-Befürwortern zu entkräften.“

Aber ob das May weiterhilft, ist offen. Doch eine Hilfe wäre es für sie, wenn für die Suche nach diesem Formel-Kompromiss noch weitere, zeitaufwändige Prüfungen verabredet würden. Genau das wird jetzt erwogen: Der Gipfel könnte „Verfahren verabreden“, wie man offene Fragen löse.

Spekuliert wird schon, dass dazu noch Gespräche zwischen London und Brüssel geführt werden. Vermutlich gehe es May genau um diesen Zeitgewinn, sagen Beteiligte: Sie wolle offenbar die Unterhaus-Abstimmung so lange ins nächste Jahr hinauszögern, bis ihre Gegner vor dem Austrittsdatum 29. März 2019 keinen Spielraum für Alternativen – etwa ein zweites Referendum oder die Forderung nach Neuverhandlungen des Vertrages – mehr haben.

Wenn die Abgeordneten wirklich nur noch zwischen dem vorliegenden Austritts-Deal und dem chaotischen Brexit wählen könnten, sei eine Mehrheit im Unterhaus möglich, so die Kalkulation. Immerhin: Die EU scheint bereit, dieses Spiel mitzumachen.

Wie wahrscheinlich ist ein chaotischer Brexit?

Der ungeregelte Brexit ohne Vertrag rückt näher, kann aber noch verhindert werden. Die EU-Regierungschefs werden beim Gipfel beraten, wie die Vorbereitungen auf einen wilden EU-Austritt Großbritanniens verstärkt werden können; die Kommission werde nächste Woche neue Pläne vorlegen, hieß es in Brüssel.

Alle wissen: May steht die Entscheidungsschlacht erst noch bevor, ihre Lage ist verzweifelt, eine Mehrheit nicht in Sicht. Der Brexit-Experte Brok meint, May könne die Abstimmung im Parlament in der zweiten Runde gewinnen, wenn der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, die Abstimmung für seine Abgeordneten freigebe.

Die Premierministerin kämpft indes gegen den gefährlichen Eindruck, sie führe die Abgeordneten an der Nase herum. Je später die Abstimmung, desto schwieriger wird es auch, Auswege im Fall der Niederlage zu finden.

Eine Option wird in Brüssel intern dennoch schon diskutiert: Eine Verschiebung des Brexit zumindest um einige Monate wird tatsächlich wahrscheinlicher. Großbritannien müsste die Vertagung beantragen, die EU-Staaten müssten zustimmen. Noch gibt es aus London kein Signal. Deshalb kommt auch Brüssel offiziell noch nicht aus der Deckung.

Doch im Hintergrund wird bereits signalisiert, im Fall der Fälle könnte das Austrittsdatum verschoben werden. Eine solche Verlängerung würde beispielsweise auch ein zweites Brexit-Referendum erleichtern, das in London zunehmend Unterstützer findet. Ganz aussichtslos ist die Lage also noch nicht.