Chemnitz/Berlin. Eine rechtsextreme Gruppe übte als „Bürgerwehr“ in Sachsen für einen großen bewaffneten Anschlag. Auch Politiker waren wohl im Visier.

Was sich am 14. September auf der Schlossteichinsel im Zentrum von Chemnitz abspielte, sollte wohl der Auftakt für etwas Größeres, in der rechtsextremen Gedankenwelt mehrerer junger Männer Monströses sein. An jenem Abend feierte eine gut zehnköpfige Gruppe deutscher Heranwachsender eine Geburtstagsparty. Die Wiesen und Bänke rund um den Musikpavillon sind ein beliebter Treffpunkt im Herzen der betonschweren 250.000-Einwohner-City, die zu DDR-Zeiten den Namen Karl-Marx-Stadt trug.

Gegen 21.15 Uhr gesellten sich ungebetene Gäste zu den Teenies. Mindestens 15 Personen gaben sich als „Bürgerwehr“ aus, verlangten aggressiv die Ausweise der jungen Leute. Die ergriffen die Flucht und riefen die Polizei. Kein Wunder, die Stimmung in Chemnitz war nach dem Tod eines 35-jährigen Deutschen, der mutmaßlich von einem Asylbewerber erstochen wurde, und den Ausschreitungen extrem aufgeladen.

Als die Gruppe scharfe Waffen will, greift die Polizei zu

Die Bürgerwehr suchte und fand andere Opfer an jenem Abend. Auf der Schlossteichinsel entdeckten und kreisten sie eine Gruppe von sieben Deutschen, Iranern und Pakistanern ein, die auf dem Rasen saßen. Es folgten ausländerfeindliche Pöbeleien, ein 26-jähriger Iraner wurde durch einen Flaschenwurf leicht verletzt.

Die oft gescholtene Chemnitzer Polizei war schnell. Die Angreifer wurden vorläufig festgenommen, darunter Christian K. (31), Sten E. (28), Martin H. (20), Marcel W. (30) und Sven W. (27). Die Männer waren mit Glasflaschen, Quarzhandschuhen und einem Elektroschocker ausgerüstet. Christian K. blieb in Haft, die anderen kamen zunächst frei.

Erinnerungen an NSU und „Gruppe Freital“ geweckt

Dass hinter dem breitbeinigen Selbstjustiz-Auftritt der „Bürgerwehr“ weitaus mehr steckte, ging den Ermittlern schnell auf – und weckt Erinnerungen an die rechte Mörderbande NSU um Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe, die sich jahrelang im sächsischen Zwickau versteckt hielten, oder die „Gruppe Freital“, die Sprengstoffanschläge auf Flüchtlinge verübte.

Die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe, die am 21. September den Fall an sich zog, geht davon aus, dass insgesamt achtMänner eine rechtsterroristische Gruppe namens „Revolution Chemnitz“ gründeten, um bewaffnete Anschläge gegen Ausländer, politisch Andersdenkende, Politiker und „Angehörige des gesellschaftlichen Establishments“ auszuüben.

Verständnis als „rechtsextremistische Elite“

Die Männer sollen sich als Elite der rechtsextremistischen Szene Sachsens verstanden und einen Umsturz des demokratischen Rechtsstaats ins Auge gefasst haben. Das erfuhren die Ermittler aus abgehörten Telefongesprächen und Nachrichten, die sich die Tatverdächtigen in einer nach dem Angriff im Park eingerichteten WhatsApp-Gruppe zuschickten.

Die Chatgruppe hieß nach Informationen aus Sicherheitskreisen ebenfalls „Revolution Chemnitz“. Die Aktion auf der Schlossteichinsel diente dafür als eine Art Probelauf, richtig zuschlagen wollte die Gruppe laut Ermittlern am Tag der Deutschen Einheit.

Beschaffung halbautomatischer Waffen geplant

Bei Hausdurchsuchungen wurden zwar keine scharfen Waffen, sondern nur ein Schlagstock gefunden. Aber die Gruppe nahm in der Szene Kontakte auf, um sich halbautomatische Waffen zu beschaffen. Spätestens da war der Punkt für die Ermittler gekommen, mit mehr als 100 Polizisten und mobilen Einsatzkommandos zuzuschlagen. Einer der nun festgenommenen sieben Terrorverdächtigen (alle zwischen 20 und 30 aus der Hooligan-, Skinhead- und Neonaziszene im Raum Chemnitz) wurde auf dem Weg zur Montage an einer Raststätte in Bayern gefasst.

Wo aber wollten die Männer um den mutmaßlichen Rädelsführer Christian K. ihre Umsturzpläne verwirklichen? In Sachsen? Oder gar bei den Einheitsfeiern am Mittwoch in Berlin? Die Bundesanwaltschaft will sich nicht festlegen, hält einen „räumlichen Zusammenhang“ zu Chemnitz für denkbar.

Glaube, den „Volkswillen zu exekutieren“

Im Kreis der Beschuldigten fällt der Name Tom W. auf. Der 30-Jährige mischte bei der 2008 verbotenen Kameradschaft „Sturm 34“ mit. André Löscher von der Opferberatungsstelle Chemnitz glaubt, dass die seit Wochen aufgeputschte Stimmung Angriffe begünstigt: „Es gibt Rechtsextremisten, die nach Hetzreden wie auf den Demonstrationen in Chemnitz das Gefühl haben, mit Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Menschen mit Migrationshintergrund den vermeintlichen Volkswillen zu exekutieren.“

Innenminister Horst Seehofer erreichte in München die Information von dem Schlag gegen die mutmaßliche Terrorzelle. „Seit Monaten sage ich, dass eine hohe Gefährdungsstufe von Terrorismus besteht in Deutschland, und zwar jeder Schattierung.“ Es gelte „null Toleranz gegenüber Rechtsradikalen und Rechtsextremisten“.

Seehofer äußerte Verständnis für die Wut

Nach den Tumulten auf den Straßen von Chemnitz im August hatte Seehofer Verständnis für die Wut geäußert: „Ich wäre, wenn ich nicht Minister wäre, als Staatsbürger auch auf die Straße gegangen.“ Seehofer stellte klar, dass er nicht Seite an Seite mit Radikalen demonstriert hätte, so wie es AfD-Politiker mit Nazis und Pegida-Vertretern taten.

Zugleich hielt Seehofer Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen die Treue. Der verspielte mit Zweifeln an der Echtheit von Berichten und einem Video zu Hetzjagden in Chemnitz nach dem Tod des Deutschen seinen Ruf. Der Fall Maaßen brachte die Koalition an den Rand des Zusammenbruchs. Maaßens Beförderung zum Staatssekretär löste einen Aufschrei aus. Maaßen wird jetzt Sonderberater bei Seehofer.

Problem nicht kleinreden, aber auch „anständiges Sachen“ verteidigen

Die Ermittlungen zur Gruppe „Revolution Chemnitz“ dürften die Debatte darüber, wie groß das Problem Rechtsextremismus im Osten ist, anfachen. Dabei gibt es auch im Westen Hotspots, wie etwa in Dortmund. Sachsens Vize-Ministerpräsident Martin Dulig (SPD) sagte, nach dem NSU sei es dennoch ein Warnruf: „Wir dürfen das Problem nicht kleinreden, aber wir verteidigen auch das anständige Sachsen.“

Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) betonte: „Die Leute werden zur Verantwortung gezogen und vor ein Gericht gestellt.“ Justizministerin Katarina Barley spricht von einem wichtigen Schlag. Von rechtem Terror gehe große Gefahr aus. „Aus den Verbrechen des NSU haben wir gelernt, dass wir sehr viel wachsamer sein müssen als früher.“