Berlin. Bei der Wahl am Dienstag konnte sich Ralph Brinkhaus gegen Amtsinhaber Volker Kauder durchsetzten. Eine klare Niederlage für Merkel.

Es war ein politisches Erdbeben, das am Dienstag die Unionsfraktion erschütterte: Die Abgeordneten haben mit dem CDU-Politiker Ralph Brinkhaus einen neuen Chef.

Der langjährige Fraktionschef und Vertraute von Kanzlerin Angela Merkel, Volker Kauder, unterlag am Dienstag in einer Kampfabstimmung einem bis dato in der breiten Öffentlichkeit kaum bekannten CDU-Finanzpolitiker. Brinkhaus erhielt 125 Stimmen, Kauder 112, es gab zwei Enthaltungen.

Es war 16.48 Uhr, als die SMS aus dem Sitzungssaal nach draußen drangen. Viele trauten ihren Displays nicht. Und auch im Saal herrschte eine „gewisse Sprachlosigkeit“ als das Ergebnis verkündet wurde, so beschreiben es Teilnehmer.

Dann gab es verhaltenen Applaus. Volker Kauder, CSU-Chef Horst Seehofer, Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt standen auf, um dem völlig überwältigten Brinkhaus zu gratulieren. Dieser „wusste nicht, wie ihm geschah“, erzählte ein Teilnehmer.

Merkel, Seehofer und Dobrindt hatten stark für Kauder geworben

Dann stand der Herausforderer auf: „Mir fehlen jetzt die Worte“, sagte er. Und: „Ich freue mich über das Vertrauen.“ Doch bat er Wahlleiter Dobrindt um eine Unterbrechung der Sitzung. Kurz darauf kam der Fraktionsvorstand zusammen, auch Kanzlerin Merkel nahm daran teil.

Merkel hatte zuvor noch massiv für ihren Vertrauten Kauder geworben. Seine Wahl sei wichtig, „damit auch ich eine stabile Grundlage für meine Arbeit habe“, sagte sie. Es sei der falsche Zeitpunkt für einen Wechsel.

Auch Seehofer und Dobrindt hatten stark für Kauders Wiederwahl Stimmung gemacht. „Man kann sich immer auf ihn verlassen, egal, was los ist“, sagte Seehofer. Dass zeichne Kauder in seinen Augen unbedingt aus. Und das sei bei einem Neuanfang auch nicht immer garantiert.

Die Fraktion folgte Merkel immer – das ist jetzt anders

Brinkhaus sammelte sich und trat vor die Presse: Er freue sich riesig über die Wahl. Jetzt gehe es darum, schnell wieder an die Arbeit zu kommen. „Wir haben anspruchsvolle Projekte vor uns.“ Brinkhaus betonte, er habe großen Respekt vor der Leistung Kauders, der in der Sitzung anhaltenden Beifall bekommen habe.

Kauder habe sich dies mit seiner langjährigen erfolgreichen Tätigkeit verdient. Kauder war 13 Jahre lang Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion – ein Rekord. Eine Fortsetzung der vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Kanzlerin Merkel erwähnte Brinkhaus bei diesem Statement nicht.

Merkel: "In der Demokratie gibt es auch Niederlagen"

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    „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Angela Merkel“, sagte er später. „Da passt zwischen uns kein Blatt Papier.“ Brinkhaus hatte sich als Finanz- und Haushalts­experte der Fraktion einen Namen gemacht und präsentierte sich in den vergangenen Wochen als Alternative zu Kauder.

    Sein Programm: Nach 13 Jahren Kauder brauche es neue Köpfe, Aufbruch, frischen Wind. Anfangs belächelt für seine Kandidatur, zog er stur das Ding durch. Besonders durch seine Rede am Dienstag habe Brinkhaus Zweifler noch überzeugt, Kauder dagegen habe „fahrig“ gewirkt, so beschreibt es ein Parlamentarier, der unsicher war, wem er seine Stimme geben sollte.

    Ein Riesenproblem für Angela Merkel

    Für die Kanzlerin ist dieser Wechsel an der Spitze ein Riesenproblem. Es ist eine Erosion ihrer Macht, ihrer Machtbasis Fraktion, die ihr bislang treu folgte – gerade wegen Volker Kauder, ihren verlängerten Arm in der Fraktion.

    Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann (SPD) bewertete den Sieg von Brinkhaus gegen Merkels langjährigen Vertrauten als Zeitenwende in der Union. „Das ist ein dramatischer Vorgang“, sagte Oppermann unserer Redaktion.

    Der Machtwechsel an der Spitze der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gegen den ausdrücklichen Willen der CDU-Vorsitzenden werfe ein Schlaglicht auf die Lage der Regierungschefin: „Wie es jetzt für die Kanzlerin weitergeht, ist offen.“ Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende Oppermann dankte Kauder für die Zusammenarbeit: „Volker Kauder war für mich immer ein loyaler Partner.“

    Merkel trat am Dienstagabend vor die Presse – und räumte ihre Niederlage ein. Mit leiser Stimme gratulierte sie Brinkhaus zur Wahl. „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es auch nichts zu beschönigen.“

    Sie wolle die gute Zusammenarbeit mit der Fraktion beibehalten und habe daher Brinkhaus ihre Zusammenarbeit angeboten. Ihrem Fahrensmann Kauder dankte sie für 13 Jahre außerordentlicher Zusammenarbeit. Sprach’s und verschwand wieder.

    Ein weiterer Schlag für die Kanzlerin

    Kauder war schon 2017 – nach dem für die Union enttäuschenden Abschneiden bei der Bundestagswahl – bei der Wahl zum Fraktionschef mit einem Ergebnis von nur 77 Prozent abgestraft worden. Damals gab es keinen Gegenkandidaten. Zuvor hatte der Baden-Württemberger meist Zustimmungswerte von weit über 90 Prozent erhalten – 2013 waren es sogar 97,4 Prozent.

    Es war nach der Krise der Union im Sommer und der gerade überstandenen Affäre um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen ein weiterer Schlag für Merkel, aber auch für die gesamte Fraktionsführung. Seehofer und Dobrindt konnten ihre Abgeordneten nicht überzeugen, für ihren Wunsch-Kandidaten zu stimmen.

    Kurz vor der Bayernwahl sind die CSUler mehr als unzufrieden mit der Performance der Regierung. Nach der Abstimmung blieben vor dem Plenum leicht schockierte Abgeordnete zurück. „Das war kein Zufall“, sagte einer aus dem Merkel-Lager. „Das war ein bewusster Denkzettel. Nun können wir auf nichts und niemandem mehr vertrauen.“

    Mit Brinkhaus an der Spitze könnte die Zusammenarbeit noch wesentlich schwieriger werden, als es unter Kauder manchmal der Fall war. Ihre Beinfreiheit, die angesichts der Schwäche der Koalitionspartner CSU und SPD nach der Bundestagswahl vor einem Jahr ohnehin stark eingeschränkt ist, dürfte sich noch weiter verringern.

    Der Unions-Innenexperte Armin Schuster (CDU) sagte, der Zeitpunkt für die absehbare Wachablösung an der Fraktionsspitze sei „nicht unbedingt geschickt gewählt“ – in einer Phase, in der es in der Koalition knirsche.

    Die Opposition fordert von Merkel die Vertrauensfrage

    Seehofer sagte nach der Abstimmung, das Ergebnis sei nun zu respektieren. Auf die Frage, ob er die Situation in der Fraktion falsch eingeschätzt habe, antwortete Seehofer, man müsse jetzt mit den Abgeordneten reden.

    Fraktionsvize Hans Michelbach (CSU) argumentierte, die Mehrheit der Abgeordneten habe sich dafür entschieden, einen „neuen Aufbruch“ zu wagen, wie ihn Brinkhaus versprochen habe. Es habe sich aber hier nicht um eine Kanzlerwahl gehandelt, sagte er auf die Frage, ob das Ergebnis als Misstrauensvotum für Merkel zu werten sei. Allerdings sei mit einer neuen Haltung der Fraktion gegenüber dem Kanzleramt zu rechnen.

    Die Opposition sah ihre Stunde gekommen und erhöhte weiter den Druck. „Frau Merkel sollte im Deutschen Bundestag die Vertrauensfrage stellen“, sagte Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch.

    Drastischer formulierte es der FDP-Vorsitzende Christian Lindner: „Eine instabile Regierung, die nur mit sich selbst streitet, hat das Land nicht verdient. Deswegen empfehle ich Frau Merkel, die Vertrauensfrage zu stellen.“