Damaskus/Tunis/Washington. Russland fliegt Angriffe gegen die letzte Rebellenbastion Idlib, Assad verlegt Panzer in den Norden. Die UN befürchten ein Blutbad.

Die Vereinten Nationen befürchten ein Blutbad und 800.000 neue Flüchtlinge und warnen vor der größten humanitären Katastrophe im 21. Jahrhundert. Der Weltsicherheitsrat tritt Freitag zusammen, während zu gleicher Stunde die Präsidenten von Iran, Russland und der Türkei in Teheran über das Schicksal der letzten Rebellenbastion entscheiden.

Das Regime des syrischen Machthabers Baschar al-Assad will die Region Idlib zurückerobern, „koste es, was es wolle“. Die Regierung in Moskau spricht von einer Eiterbeule, die entfernt werden müsse. Russische Kampfflugzeuge bombardierten am Dienstag Ziele in Idlib, für viele ein Anzeichen für eine bevorstehende Bodenoffensive.

In der Nacht zum Mittwoch griff die syrische Armee Beobachtern zufolge die letzte Rebellen-Hochburg an. Granaten seien am Mittwoch in der Umgebung von Dschisr al-Schughur im Westen der Provinz eingeschlagen, teilte die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit.

Rebellen sprengten demnach eine weitere Brücke, um einen Vormarsch der Regierungstruppen zu erschweren. Die Türkei, die an die Region Idlib grenzt, verstärkte ihren Grenzschutz. Die Regierung in Ankara betrachtet die Nordregion als ihre Einflusszone, fühlt sich aber von der massiven Präsenz der Al-Kaida-Extremisten bedroht. Wie geht es weiter in dem Drama um Idlib? Fragen und Antworten:

Wie ist derzeit die Lage in der Rebellenenklave?
In der letzten Hochburg der Assad-Gegner leben gut drei Millionen Menschen, eine Million von ihnen sind Kinder. Die Hälfte der Bevölkerung sind Binnenflüchtlinge aus anderen Teilen Syriens. Hunderttausende leben in Zeltlagern. Sie warten voller Angst auf die nächsten Tage und Wochen.

Helfer in einer Ruine in Idlib.
Helfer in einer Ruine in Idlib. © picture alliance / AA | dpa Picture-Alliance / Ammar Stifi

Gleichzeitig beherbergt die Enklave die bisher höchste Konzentration an bewaffneten Aufständischen. Von den geschätzten 40.000 bis 70.000 Kämpfern gehört knapp die Hälfte zur Al-Kaida nahen Hayat Tahrir Sham. Diese Dschihadisten, die 60 Prozent der Provinz kontrollieren, lehnen Verhandlungen ab. Sie bereiten sich vor auf die „Mutter aller Schlachten“, wie sie das kommende Inferno nennen. Der Großteil der Zivilisten könnte zwischen die Fronten geraten. „Hier gibt es viel mehr Babys als Terroristen“, beschwor Jan Egeland, Chef der UN-Katastrophenhilfe in Syrien, die Kriegsplaner: „Wir appellieren an die Vernunft.“

Welche Strategie verfolgt Russland?
Moskau inszenierte sich zunächst als Mittler, der als Einziger noch das Blutvergießen von Idlib verhindern kann. Dazu bot der russische Präsident Wladimir Putin bei seinem Treffen mit Kanzlerin Angela Merkel auf Schloss Meseberg an, seinen Schützling Assad von einer offenen Feldschlacht abzuhalten, wenn Europa dafür im Gegenzug die ersten Milliarden für den Wiederaufbau lockermacht. Eine Großoperation in Idlib stehe nicht zur Debatte, erklärte damals sein Sondergesandter für Syrien, Alexander Lavrentiev.

Merkel beharrte auf der Brüsseler Linie – ohne einen glaubwürdigen politischen Übergangsprozess in Syrien gebe es kein Geld. Nach dieser Abfuhr drehte sich die Moskauer Rhetorik. Die syrische Armee stünde bereit, das Terroristen-Problem zu lösen, hieß es aus dem Kreml. Nach drei Wochen Pause nahm Russlands Luftwaffe am Dienstag ihre Luftangriffe wieder auf.

Welche Rolle spielt der Iran?
Iran ist am Freitag Gastgeber des wohl letzten Syriengipfels vor Beginn der Offensive. Nach Teheran eingeladen hat Präsident Hassan Ruhani Kremlchef Wladimir Putin und seinen türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan. Irans Hardliner und ihre schiitischen Milizenverbände setzen auf einen totalen Sieg ihres Verbündeten Assad.

Die moderateren Politiker jedoch wissen, neben einem Inferno von Idlib könnten selbst die Schrecken der Schlacht von Aleppo 2016 verblassen. Das würde die Islamische Republik international weiter isolieren und auch ihre europäischen Partner, die bislang an dem Atomvertrag festhalten, gegen sie aufbringen.

Welche Interessen hat die Türkei?
Der Türkei fällt als Grenznachbar eine Schlüsselrolle zu, auch wenn Ankara die Offensive des Regimes, unterstützt von iranischen Bodentruppen und russischen Kampfflugzeugen, weder politisch noch militärisch abwenden kann. Präsident Erdogan fürchtet vor allem, der Großangriff könnte einen Massenansturm Verzweifelter auf das türkische Territorium auslösen, wohin sich in den letzten sieben Jahren bereits 3,5 Millionen Syrer geflüchtet haben.

Andererseits gab sein Außenminister Mevlüt Cavusoglu beim Besuch in Moskau offenbar grünes Licht für eine Offensive gegen Hochburgen der Extremisten. Seine Regierung verstehe die Sicherheitsbedenken Russlands in Idlib, sagte er. Und: „Die Kämpfer müssen von den Zivilisten getrennt und die Terroristen unschädlich gemacht werden.“ Wie das konkret geschehen soll, dazu schwieg Cavusoglu.

Wie verhalten sich die USA?
Donald Trump hat sich mit einem ungewohnt menschelnden Appell in den militärischen Aufgalopp um Idlib eingeschaltet. Was der US-Präsident tatsächlich tun wird, wenn die syrische Regierung den letzten Rückzugsraum der Rebellen stürmen lässt, ist unklar. „Präsident Baschar al-Assad darf die Provinz Idlib nicht unbesonnen angreifen“, schrieb Trump auf Twitter. „Die Russen und Iraner würden einen schweren humanitären Fehler machen, sich an dieser potenziellen menschlichen Tragödie zu beteiligen. Hunderttausende Menschen könnten getötet werden. Lasst das nicht geschehen!“, erklärte der Präsident.

US-Präsident Donald Trump
US-Präsident Donald Trump © REUTERS | LEAH MILLIS

Zuvor hatte Außenminister Mike Pompeo Assads Schutzmacht Moskau die „Verschärfung des ohnehin gefährlichen Konfliktes“ vorgeworfen. Von einer US-Intervention als Konter sprach er nicht. Im Nordosten Syriens sind 2200 Soldaten stationiert. Trump will aber generell weniger Einmischung der USA in Syrien. Vorläufig bleibt es darum bei Rhetorik: Neben Pompeo deuteten auch der Nationale Sicherheitsberater John Bolton und UN-Botschafterin Nikki Haley eine „starke“ Antwort der USA an, sollte Assad in Idlib Chemiewaffen einsetzen.

Lässt sich die Tragödie von Idlib noch abwenden?
Das syrische Regime ist zu allem entschlossen. „Idlib ist nun das nächste Ziel“, kündigte Diktator Assad bereits Ende Juli an. Seitdem rollt ein endloser Konvoi von Lkw, beladen mit Panzern, Geschützen und Munition, gen Norden. Auf dem Militärflughafen von Hama, gut 20 Kilometer von der Front entfernt, herrscht Hochbetrieb. Ständig landen voll beladene Hubschrauber und Transportmaschinen.

Der Dreier-Gipfel am Freitag in Teheran wird die massive militärische Dynamik wohl nicht mehr aufhalten. Und so werden Russland und Iran mit der Türkei wahrscheinlich nur noch abstecken, in welchen Etappen und Zeiträumen das letzte Gemetzel des syrischen Bürgerkriegs ablaufen wird.