Berlin. Firmen beklagen, dass in Deutschland auch gut integrierte Arbeitskräfte wieder abgeschoben werden. Die Politik will jetzt reagieren.

Esam M. (27) war Bäcker schon in seiner Heimat Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Er floh vor Gewalt nach Deutschland. Und fand ein Angebot in München – bei einer Bäckerei, die dringend und seit langer Zeit Auszubildende suchte. Alles schien zu passen. Doch dann musste Esam M. weg – die Behörde schob ihn ab.

Mansor S. dagegen wurde nicht abgeschoben. Der 30-Jährige, ebenfalls aus Afghanistan, hatte mutmaßlich 2017 einen anderen Geflüchteten mit dem Messer bedroht, wurde auch wegen Vorstrafen zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt. Weil sein Anwalt Revision einlegte, blieb S. vorerst in Deutschland – und wurde wohl erneut straffällig. S. ist dringend tatverdächtig, in Hamburg eine 14-Jährige vergewaltigt zu haben.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) stieß die Debatte über den „Spurwechsel“ in der CDU an.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) stieß die Debatte über den „Spurwechsel“ in der CDU an. © dpa | Markus Scholz

Eine Fachkraft muss gehen, ein Straftäter bleibt. In beiden Fällen setzt der Staat geltendes Recht um. Und doch bleibt für viele das Gefühl: Die Abschiebung traf den Falschen. Esam M. ist kein Einzelfall. Doch eigentlich sendet die Politik seit 2015 eine andere Botschaft: Wer straffällig wird, muss gehen, wer nach den Regeln spielt und sich Mühe gibt, hat bessere Chancen zu bleiben. Nur: Die Realität des Asylrechts konterkariert das immer wieder.

Politiker mehrerer Parteien wollen das jetzt ändern. „Spurwechsel“ heißt der Slogan, der künftig Menschen wie Esam M. eine Bleibechance geben soll. Menschen, die zwar aus Sicht der Behörde kein Recht auf Asyl haben – aber für deutsche Firmen eine wichtige Arbeitskraft sind.

• Wie viele abgelehnte Asylbewerber werden tatsächlich abgeschoben?

Ende 2017 waren 118.000 Menschen mit einem abgelehnten Asylantrag ausreisepflichtig. Doch nicht alle von ihnen müssen Deutschland verlassen. Fast 90.000 von ihnen sind geduldet, sie dürfen vorerst bleiben, weil Reisedokumente fehlen, den Menschen in der Heimat akut Gewalt droht, sie krank sind.

Oftmals werden „Duldungen“ über Jahre immer wieder verlängert. Mittlerweile leben knapp 300.000 Menschen in Deutschland, obwohl sie einst abgelehnt wurden. Nach Jahren der Duldung erhalten sie zunächst einen befristeten und später vielfach auch einen unbefristeten Aufenthaltstitel, viele von ihnen arbeiten längst hier und haben eine Familie gegründet.

Die Ausländerbehörde schiebt sie nicht mehr ab. Vielfach erlischt dieser Schutz aber auch, etwa wenn den Behörden die Passersatzpapiere aus dem Heimatland vorliegen oder eine Duldung endet, da die Sicherheitslage im Heimatland besser ist.

Fast 24.000 Menschen wurden laut Statistikamt 2017 abgeschoben, 12.261 waren es im ersten Halbjahr 2018. Zuletzt kam Kritik an den Behörden auf, da auch Menschen abgeschoben wurden, obwohl sie in Deutschland gut integriert sind. Gleichzeitig monieren viele, dass mutmaßliche Straftäter nicht abgeschoben werden – etwa weil sie abtauchen.

• Spielt bei der Entscheidung eine Rolle, ob die Menschen wertvolle Fachkräfte für den Arbeitsmarkt wären?

Beim Asylantrag spielt zunächst keine Rolle, ob eine Frau aus dem Iran eine besonders gute Ärztin ist, ein Ghanaer Maschinenbau studiert hat oder ein Syrer ein ausgebildeter Krankenpfleger ist. Was für Schutz in Deutschland zählt, ist die Flucht vor Verfolgung, Krieg oder Gewalt in der Heimat.

Doch hat die große Koalition 2016 vor allem auf Druck von Unternehmen im Asylpaket Ausnahmen geschaffen, die eine Integration in den Arbeitsmarkt erleichtern sollen. Geflüchtete, die eine Ausbildung beginnen, haben ein Recht auf einen zweijährigen Anschlussvertrag nach der Lehre – sogar dann noch, wenn der Asylantrag abgelehnt wurde.

Diese sogenannte 3+2-Regelung liegt in der Verantwortung der Ausländerbehörden, und die handhaben die Regel unterschiedlich – in Bayern strenger als in Schleswig-Holstein. Wenn ein Flüchtling bei seinem Asylantrag getäuscht hat oder der Mensch aus einem sicheren Herkunftsland, etwa auf dem Balkan, kommt, entfällt die Regelung.

Seit Jahren klagen Firmen, dass Bewerber für Ausbildungsplätze fehlen. Verbände fordern, Asylbewerber schneller und besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Vor allem in ­Bayern und Baden-Württemberg haben sich Betriebe zusammengeschlossen, um zu verhindern, dass ihre Arbeitskräfte mit einer Duldung abgeschoben werden.

• Was ist gemeint, wenn jetzt ein „Spurwechsel“ vorgeschlagen wird?

Der Vorschlag, der diskutiert wird, sieht eine Art „Einwanderung light“ vor: Menschen, die unter dem Schirm des Asylrechts nach Deutschland gekommen sind, sollen sich über Integration auf dem Arbeitsmarkt das Recht erwerben können zu bleiben. Entscheidend soll nicht mehr das Bedürfnis nach Schutz sein, sondern die berufliche Perspektive.

Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU), der die Debatte angestoßen hat, definiert die Kriterien so: Der „Spurwechsel“ müsse möglich sein, „wenn Menschen integriert sind, wenn sie eine Ausbildung schon abgeschlossen haben, die Möglichkeit haben, auch auf dem Arbeitsmarkt tätig zu sein“.

• Was bedeutet Seehofers Papier zur Einwanderung?

Erste Eckpunkte zum geplanten Einwanderungsgesetz wurden am Donnerstag bekannt: In einem sechsseitigen Entwurf, der unserer Redaktion vorliegt und über den das „Handelsblatt“ zuerst berichtete, erklärt das Innenministerium, wie es sich die Einwanderung von Fachkräften in Zukunft vorstellt.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU). © dpa | Wolfgang Kumm

Die sogenannte Vorrangprüfung, bei der sichergestellt wird, ob nicht ein Deutscher die Arbeit machen könne, soll wegfallen. Eine Clearingstelle Anerkennung soll mögliche Bewerber dabei unterstützen, ihre Qualifikationen hier anerkennen zu lassen. Von „Spurwechsel“ ist in dem Papier allerdings keine Rede: Zum Thema Flüchtlinge heißt es nur, dass man das Potenzial derjenigen, die arbeiten dürfen, nutzen wolle.

Das geplante Einwanderungsgesetz ist eines der großen Projekte der Koalition in dieser Wahlperiode. Die vielen Gesetze, Verordnungen und Vorschriften, die bislang regeln, wer unter welchen Umständen nach Deutschland kommen darf, sollen darin zusammengeführt und vereinheitlicht werden. Vor allem aber soll mit gesteuerter Zuwanderung dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden.

• Wer unterstützt das „Spurwechsel“-Modell ?

Grüne und FDP plädieren schon seit Langem für ein solches Konzept. Entsprechend begrüßten beide Parteien, dass in der CDU nun über das Thema gesprochen wird. Auch die SPD, die darauf gedrängt hatte, dass das Einwanderungsgesetz schnell kommt, zeigte sich erfreut. Selbst von der Linken kommt Lob: Jan Korte, parlamentarischer Geschäftsführer, nannte Günthers Vorstoß als „zur Abwechslung mal ein positives Signal aus den Reihen der Union“.

Positives Echo kommt auch aus der Wirtschaft: Sowohl der Zentralverband des Deutschen Handwerks als auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) begrüßten vor dem Hintergrund dringend benötigter Fachkräfte, dass die Koalition sich um das Thema kümmern will.

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    • Welche Argumente führen die Gegner des „Spurwechsels“ ins Feld?

    Das erklärte Ziel der CSU ist es, Zuwanderung zu begrenzen. Entsprechend ablehnend wurde Günthers Vorstoß daher in Bayern aufgenommen. Er halte nichts davon, abgelehnten Asylbewerbern den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern, sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann der „Süddeutschen Zeitung“. „Das könnte dazu führen, Deutschland attraktiver für illegale Zuwanderung zu machen.“

    Vorstellbar sei höchstens eine Sonderregelung für dringend benötigte Pflegekräfte. Und auch im Papier zum Einwanderungsgesetz aus dem Haus von CSU-Chef Horst Seehofer steht: „Zunächst und prioritär“ wolle man die Anstrengungen der Bundesregierung darauf richten, inländische Potenziale zu heben.