Duisburg/Berlin. Städte klagen über organisierten Missbrauch und Betrug bei Kindergeldzahlungen nach Osteuropa. Und die Regierung tue nichts dagegen.

Sören Link ist ein Mann, der Tacheles redet. Das schätzen die Duisburger an ihrem Oberbürgermeister. Der 42 Jahre alte SPD-Politiker mit der Glatze und der markanten Brille wurde am Tag der Bundestagswahl im September 2017, der für die Bundes-SPD im 20-Prozent-Desaster endete, mit 56 Prozent im ersten Wahlgang wiedergewählt. Ein Grund, warum Link trotz vieler AfD-Erfolge im Ruhrgebiet eine so hohe Glaubwürdigkeit genießt, ist, dass er auch dort hinschaut, wo es in der Gesellschaft brodelt.

Seit Jahren ein großes Thema in Duisburg und in vielen anderen deutschen Städten ist das Geschäft krimineller Schlepper, die gezielt Menschen aus Osteuropa in verwahrloste Stadtteile wie Duisburg-Marxloh lotsen. Dort werden sie in heruntergekommenen Wohnungen untergebracht, damit sie einen Wohnsitz haben und Kindergeld oder Sozialleistungen beantragen können.

Die Behörden decken immer wieder Missbrauch auf, der Schaden geht in die Millionen. Link schlägt nun zum wiederholten Mal Alarm und warnt vor einer gezielten Migration in das deutsche Sozialsystem. Allein in Duisburg lebten rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien, darunter viele Sinti und Roma.

Vor knapp sechs Jahren seien es erst 6000 gewesen. „Die Bundesregierung verschläft dieses Problem, sie muss endlich was dagegen tun, dass es Armutsflüchtlinge in Europa gibt“, sagt Link. Mit den Folgen kämpfen auch Städte wie Fürth, Mannheim, Bremerhaven oder Offenbach.

Wie viel Kindergeld wird ins Ausland überwiesen?

Wer in Deutschland gemeldet ist, dessen Kinder aber im Ausland leben, hat Anspruch auf Kindergeld. 2017 zahlte der Bund dafür rund 343 Millionen Euro. Für das erste und zweite Kind gibt es monatlich 194 Euro, für das dritte Kind 200 Euro, für das vierte und jedes weitere Kind 225 Euro. Zum 1. Juli 2019 steigen die Sätze um jeweils 10 Euro. Die Zahl ausländischer Kindergeldempfänger steigt seit Längerem.

„Im Juni 2018 wurde für 268.336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt“, teilte das Bundesfinanzministerium mit. Das ist eine Zunahme um 10,4 Prozent. Ende 2017 lag die Zahl bei 243.234 Empfängern, 2016 bei 232.189. Unter den knapp 270.000 Empfängern waren knapp 19.000 Rumänen, rund 7000 Bulgaren, aber auch rund 31.000 deutsche Staatsbürger, die im Ausland leben.

Insgesamt gab es Ende 2017 knapp 15 Millionen Kinder, an deren Eltern rund 36 Milliarden Euro Kindergeld gezahlt beziehungsweise Kinderfreibeträge angerechnet wurden.

Aber steckt hinter jedem Fall gleich ein Missbrauch?

Nein. Es ist geltendes EU-Recht, dass Bürger, die sich in einem anderen europäischen Land mit festem Wohnsitz niederlassen, auch Anspruch auf staatliche Leistungen wie Kindergeld haben. Durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit sind auch viele Osteuropäer dauerhaft zum Arbeiten und Leben nach Deutschland gekommen, darunter Akademiker, Handwerker oder Pflegekräfte. So ist die Zahl polnischer Empfänger von Kindergeld seit 2017 um fast 15.000 gestiegen, aus Tschechien sind es 5000 mehr und aus Rumänien knapp 2000.

Gibt es Hinweise, dass organisiert Sozialleistungen erschlichen werden?

Missbrauchsfälle sind vor allem in bestimmten Großstädten in Nordrhein-Westfalen aufgetreten. Die für die Auszahlung des Kindergelds zuständige Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit (BA) führte kürzlich mit ihren Partnern in Wuppertal und Düsseldorf 100 Verdachtsprüfungen durch und stellte in 40 Fällen fehlerhafte Angaben fest.

„Die Summe des in diesen 40 Fällen unberechtigt bezogenen Kindergelds lag bei 400.000 Euro“, sagte ein BA-Sprecher. Dies lasse sich aber nicht seriös bundesweit auf eine Gesamtsumme hochrechnen. „Diese Ergebnisse sind keine allgemeingültigen Quoten, die bundesweit für alle ausländischen Kindergeldbezieher angenommen werden könnten.“ Beim Großteil der Zahlungen laufe alles korrekt.

Wie schätzen die Kommunen die Lage ein?

Der Duisburger Rathauschef Link klagt, oft wüssten die Familienkassen gar nicht, ob die gemeldeten Kinder in Bulgarien, Rumänien oder anderswo überhaupt existierten. Es gebe gefälschte Geburtsurkunden oder Schulbescheinigungen. „Wir müssen den kriminellen Sumpf der Schlepper austrocknen, die Menschen in Rumänien und Bulgarien anwerben und hierhin bringen in Wohnungen, in denen wir selbst alle nicht leben wollen.“

Der SPD-Politiker, der im selben Kontext Müllberge und Rattenbefall in betroffenen Stadtvierteln beklagt, muss sich auch Kritik anhören, er skandalisiere das Problem. Der Vorsitzende des Zentralrats der Sinti und Roma, Romani Rose, warf Link vor, rassistische Bilder zu benutzen. Das berge „die Gefahr von Gewalt gegen Sinti und Roma“.

Was kann die Politik tun?

Bereits der frühere Finanzminister Wolfgang Schäuble wollte mit einem Gesetzentwurf durchsetzen, dass die Kindergeldzahlungen an Ausländer zumindest an die Lebenshaltungskosten (Indexierung) oder die Höhe des Kindergelds in deren Heimatland angepasst werden.

„Nach meinem Eindruck ist es nicht unmenschlich, in den Fällen, in denen jemand in Deutschland arbeitet, seine Kinder aber in Rumänien leben, Kindergeld nach rumänischem Niveau zu zahlen“, sagte der Hauptgeschäftsführer des Städtetages, Helmut Dedy.

Die große Koalition will einen erneuten Vorstoß machen. SPD-Chefin Andrea Nahles kündigte an, die Kommunen nicht alleinlassen zu wollen: „Es handelt sich hier um organisierte Banden.“ Für den 27. September hat sie Oberbürgermeister der von Arbeitsmigration aus Osteuropa besonders betroffenen Städte nach Berlin eingeladen.

Wie stehen die Chancen für eine europäische Lösung?

Eher schlecht. Nahles räumt ein, schon als Arbeitsministerin habe sie auf EU-Ebene an dem Punkt Anpassung des Kindergelds an die Lebenshaltungskosten nichts erreichen können: „Dabei bin ich auf viel Widerstand gestoßen und musste feststellen, dass diese Frage in Europa sehr umstritten ist.“

Die EU-Kommission verweist darauf, dass eine Kürzung für EU-Ausländer rechtswidrig sei. Verschärft wurde 2017 auf EU-Ebene, dass Kindergeld rückwirkend für nur noch sechs Monate bezogen werden kann und nicht mehr für bis zu vier Jahre.

Wie könnte man Betrugsfälle stärker eindämmen?

Die Wirtschaft fordert ein härteres Durchgreifen gegen einschlägige Banden. „Deshalb sollten das Bundeskriminalamt und der Zoll eingeschaltet werden, denn die zuständigen Familienkassen sind mit der Aufklärung naturgemäß überfordert“, sagte der Präsident des Bundesverbandes mittelständische Wirtschaft, Mario Ohoven. (mit dpa)