Rom/Berlin. Italien ist mit den Flüchtlingen überfordert. Ob Bundesinnenminister Seehofer ein Rücknahmeabkommen aushandeln kann, scheint fraglich.

In einer ehemaligen Penicillin-Fabrik am östlichen Stadtrand von Rom leben 500 Menschen ohne Strom und Warmwasseranschluss. Es sind Flüchtlinge, die sich die Hallen teilen. In den riesigen Müllbergen tummeln sich Ratten. Die Bewohner bauen sich aus Holzplatten, die sie am Straßenrand einsammeln, kleine Zimmer. Beim Kochen mit Gasflaschen entstehen oft Brände. Wasser gibt es nur am äußersten Ende des Grundstücks.

Das Gebäude ist eine von etlichen illegalen Flüchtlingsunterkünften in Italien. Rund 15.000 Migranten hausen derzeit in verlassenen Firmen- oder Bürotrakten, schätzt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Genaue Daten gibt es nicht, die Dunkelziffer ist hoch. Manche Flüchtlinge kampieren auch in Zelten in einem ausgetrockneten Flussbett, wie in der Stadt Ventimiglia an der Grenze zu Frankreich.

Asylbewerber haben Anspruch auf eine Flüchtlingsunterkunft. Doch wegen Überfüllung verlieren viele von ihnen rasch ihren Platz in dem zugewiesenen Aufnahmezentrum. Zum Beispiel wenn sie an drei Tagen hintereinander nicht dort übernachten. Mit Gelegenheitsarbeiten wie dem Verkauf von Schmuck verdienen viele Bewohner der Ex-Fabrik das Nötigste, um Tomaten oder Schmerztabletten einzukaufen. „Wir brauchen dringend Arbeit“, sagt ein junger Mann aus Nigeria verzweifelt.

Innenminister Salvini wollte „500.000 Illegale“ abschieben

Jeden Tag gebe es Streit zwischen den Menschen, die aus Ländern südlich der Sahara aber auch aus Pakistan, Bangladesch oder Jamaika stammen. „Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen, trotzdem darf ich nicht arbeiten“, fügt der 25-Jährige hinzu. Erst nach dem Ende des Asylverfahrens erhalten Flüchtlinge eine Arbeitserlaubnis. Doch das kann sich bis zu zwei Jahre hinziehen. Nach Angaben des italienischen Innenministeriums warten etwa 184.000 Migranten auf die Entscheidung über ihren Asylantrag.

Italiens Innenminister Matteo Salvin.
Italiens Innenminister Matteo Salvin. © dpa | Luca Zennaro

Die Flüchtlingsfrage ist eines der großen innenpolitischen Themen im Land. Im Wahlkampf hatte der heutige Innenminister und Chef der rechtsnationalen Lega-Partei, Matteo Salvini, die Abschiebung von „500.000 illegalen Migranten“ gefordert. Silvio Berlusconi, der frühere Ministerpräsident und Vorsitzende der konservativen Forza Italia, wollte gar mit der Abschiebung von „600.000 Illegalen“ punkten. Insbesondere zu Beginn des großen Flüchtlingsansturms im Herbst 2015 wurden viele Migranten, die in Italien landeten, nicht registriert und wanderten weiter Richtung Norden. Nach dem Dublin-Abkommen ist das Land für Migranten zuständig, in dem diese erstmals EU-Territorium betreten. Doch in der Praxis hat dies häufig nicht funktioniert.

Vor diesem Hintergrund hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) kürzlich mit der Zurückweisung von Flüchtlingen an der deutsch-österreichischen Grenze gedroht, was fast zum Bruch der Schwesterparteien CDU und CSU geführt hätte. Nach einem Kompromiss der Großen Koalition will die Bundesregierung nun Rücknahme-Abkommen mit anderen EU-Ländern ausarbeiten. Federführend ist Seehofer.

Bemühungen um ein wenig Hoffnung

Beim Gipfeltreffen zwischen Deutschland, Österreich und Italien in Innsbruck hatte Seehofer mit Salvini eine derartige Vereinbarung noch für August angepeilt. Ob es dazu kommt, ist offen. Denn Italien fühlt sich als Haupt-Leidtragender der Flüchtlingskrise und pocht auf mehr Solidarität vonseiten der Europäer.

Seit Innenminister Salvini die Vertreibung von Migranten predigt und die italienischen Häfen für Flüchtlinge geschlossen hat, ist das Gefühl der Bedrohung im Land gewachsen. Ausländerhass äußert sich ganz offen. Junge Leute rufen zum Beispiel aus dem Schutz vorbeifahrender Autos heraus Migranten den Satz „Das Leben im Schlaraffenland ist vorbei!“ zu – es ist Salvinis Motto.

Die frühere Penicillin-Fabrik ist alles andere als ein Schlaraffenland. Das Mobiliar im Verhau eines jungen Mannes aus dem Sudan besteht nur aus einer Matratze mit Tagesdecke, auf der ein Bild von Reggae-Idol Bob Marley prangt. Ein Badezimmerschränkchen mit Spiegel, der eigentlich über ein Waschbecken gehört, steht auf dem Boden. Zwei Stühle ohne Sitzfläche stehen herum. „Sie haben mich aus der Unterkunft vertrieben“, erzählt der junge Mann, der seine wenigen Besitztümer mit einem Vorhängeschloss schützt. „Jedesmal, wenn ich meinen Anwalt anrufe, fehlt eine Bescheinigung.“ Das lange Warten, bei dem die Asylbewerber zu Untätigkeit verdammt sind, wenn sie nicht illegal arbeiten, macht mürbe.

Psychologen versorgen die Bewohner

Einige bemühen sich, zumindest etwas Hoffnung in die düstere Lage zu bringen. „Wir stellen keine Fragen, sondern bieten medizinische und psychologische Hilfe an“, sagt Ahmad Al Rousan. Im Auftrag von Ärzte ohne Grenzen versorgt er von einem Wohnmobil aus mit Medizinern und Psychologen die Bewohner. Häufig gehe es nur darum, die Menschen mit ihren manchmal dramatischen Geschichten anzuhören. „Wir sind oft die ersten, die ihnen seit Monaten zuhören“, erklärt der 48-jährige Jordanier, der einst zum Studium nach Rom kam.

Bei den Besuchen in illegalen Siedlungen hört er täglich Horrorgeschichten. „Vor ein paar Monaten stießen wir am Bahnhof Tiburtina in Rom auf eine junge Mutter mit ihrem erst wenige Tage alten Baby“, erzählt er. Er ist ein eher ruhiger Typ, doch plötzlich zittert seine Stimme.

Die Eritreerin habe ihr Kind ohne ärztliche Hilfe in einem von Schleusern kontrollierten Lager in Libyen geboren und sei sofort danach auf eines der Boote gezwungen worden. „Wir haben versucht, sie dazu zu bewegen, ihr Baby in einem Krankenhaus untersuchen zu lassen. Aber wenige Tage später war sie nicht mehr da.“ Viele dieser Kinder seien das Ergebnis von Vergewaltigungen auf der Flucht, sagt Al Rousan.

Wem die Überfahrt nach Italien gelinge, habe häufig brutale Gewalt erlebt, sagt er. „Die meisten von ihnen sind durch diese Erfahrungen völlig abgestumpft. Dass jemand sie wie einen Menschen behandelt, wirkt sofort.“