Brüssel/London. Durch den Rücktritt von Boris Johnson und David Davis sind die Brexit-Verhandlungen gestört. Vor allem die EU steht vor offenen Fragen.

Theresa May träumte vom großen Durchbruch beim Brexit: „Da hat sich ein Team zusammengefunden, gut vorbereitet, das den Job gut macht“ – so beschrieb die britische Premierministerin noch am Wochenende den neuen Kurs ihres Kabinetts bei den Brexit-Verhandlungen, in Anlehnung an den Sieg der englischen Fußball-Nationalmannschaft über Schweden.

Zwei Tage später steht May vor einem Scherbenhaufen: Ihr Team fliegt mit Wucht auseinander, „gut vorbereitet“ rennt die Regierung ins Chaos. Erst kündigte Brexit-Minister David Davis am Sonntagabend seinen Rücktritt an, am Montagnachmittag folgte die Demission auch von Außenminister Boris Johnson.

An seiner Haltung hatte er schon zuvor keinen Zweifel gelassen: Mays neues Konzept für die Brexit-Verhandlungen sei ein „Scheißhaufen“, soll Johnson in der Kabinettsklausur am Freitag geschimpft haben. Sein Kollege Davis erklärte, die derzeitige politische Richtung treibe das Land in eine „schwache Verhandlungsposition“.

Theresa May gibt sich unbeeindruckt von Johnsons Rücktritt

Theresa May will weiter den Eindruck vermitteln, handlungsfähig zu sein.
Theresa May will weiter den Eindruck vermitteln, handlungsfähig zu sein. © dpa | Joel Rouse

Das von May vorgeschlagene gemeinsame Regelwerk mit der EU „überträgt weite Teile der britischen Wirtschaft an die EU“, meinte Davis. Der gegenwärtige Trend in der politischen Linie und Taktik ließen es immer unwahrscheinlicher erscheinen, dass die Regierung dem Mandat des Brexit-Referendums noch entspreche. Davis’ Rücktritt allein hätte May wohl noch verkraften können, sehr rasch hatte sie mit dem überzeugten Brexit-Anhänger Dominic Raab einen Ersatz präsentiert. Davis hatte schon mit Rücktritt gedroht, er fühlte sich von Mays Vertrauten bei den Verhandlungen ausgebootet.

Johnson ist ein völlig anderes Kaliber; ihm wird zugetraut, dass er – anders als Davis – selbst den Posten des Premierministers anstrebt. May zeigte sich dennoch unerschüttert und versicherte, sie werde ihren Kurs beibehalten: Das Ziel, weiterhin enge Beziehungen zur EU zu pflegen, schütze Arbeitsplätze und sei das Beste für die Bevölkerung, sagte May: „Es ist der richtige Deal für Großbritannien.“

Mit dem Abschied Johnsons setzte am Montagabend ein Stühlerücken am Kabinettstisch ein. Zunächst wurde der bisherige Gesundheitsminister Jeremy Hunt als Außenminister bestätigt. Der Posten als Gesundheitsminister wurde frei. Diesen Posten übernimmt nun der bisherige Kulturminister Matt Hancock. Als Kulturminister wurde Jeremy Wright bestätigt. Die weiteren Wechsel im Kabinett lassen sich chronologisch auf dem Twitter-Profil der Premierministerin nachvollziehen.

In Brüssel wird die neue Krise mit Bestürzung verfolgt

Mit einiger Härte und ungewöhnlichen Signalen der Entschlossenheit hatte sie am Freitag ihr Kabinett auf die neue Linie eingeschworen. So hatten ihre Mitarbeiter Visitenkarten eines Taxiunternehmens ausgelegt als deutlichen Hinweis darauf, dass bei Widerstand das Ministeramt auf dem Spiel steht – und damit die Rückfahrt mit dem Dienstwagen. Mays Plan sieht die Schaffung einer Freihandelszone mit der EU für Güter sowie weitere enge Beziehungen zur EU vor. Dadurch würde eine Landgrenze mit Kontrollen zwischen dem EU-Mitglied Irland und der britischen Provinz Nordirland vermieden.

Der Dienstleistungssektor soll ausgenommen bleiben. Zudem behält sich Großbritannien das Recht vor, eigene Einfuhrzölle zu verhängen und neue Handelsabkommen mit Dritten zu schließen. Das Problem: Großbritannien müsste den EU-Regeln umfassend und dauerhaft folgen. Zwar läge die Entscheidung formell beim britischen Parlament, doch für harte Brexit-Verfechter ist klar: Man würde sich dem Diktat der EU unterwerfen.

Schon im Kabinett soll ein Viertel der Minister zunächst gegen Mays Plan rebelliert haben. Bei den Tories ist die Aufregung groß. Der Vormann der konservativen Brexit-Hardliner, Jacob Rees-Mogg, forderte, May solle ihre „Brexit-Vision“ überdenken. Erste Konservative kündigen bereits an, im Parlament gegen die Pläne zu stimmen – bis zu 60 Abgeordnete soll der Flügel der Kritiker umfassen, angesichts der knappen Mehrheit tickt für May hier eine Bombe. Am Montagabend stand für sie ein möglicherweise entscheidendes Treffen mit einflussreichen Hinterbänklern der Fraktion bevor.

Ein Scheitern von May würde auch der EU schaden

In Brüssel wird die neue Krise mit Bestürzung verfolgt. Die EU-Regierungschefs hatten May zuletzt massiv gedrängt, endlich einen Plan für die künftigen Beziehungen nach dem EU-Austritt vorzulegen; der monatelange Stillstand in den politischen Verhandlungen wird vollständig der britischen Regierung zur Last gelegt. Was May nun plant, ist aber kaum im Sinne der EU-Linie – Zugang zum Binnenmarkt gibt es nur, wenn alle Grundfreiheiten anerkannt und das EU-Regelwerk umgesetzt wird, das ist der eiserne Verhandlungsgrundsatz, den die verbleibenden 27 EU-Staaten beschlossen haben.

Erste Reaktionen von Brüsseler Diplomaten nach dem britischen Kabinettsbeschluss waren deshalb sehr skeptisch: Doch unter dem Eindruck der Krise versucht die EU nun, May nicht weitere Schwierigkeiten zu bereiten. „Wenn May stürzt, haben beide Seiten den Schaden“, heißt es in Brüssel. Eine längere Regierungskrise in London, eine härtere Linie der Brexit-Befürworter würden die Verhandlungen weit zurückwerfen, obwohl die Zeit jetzt schon eigentlich zu knapp ist.

Offiziell gibt sich die für die Verhandlungen federführende EU-Kommission deshalb arglos: Erst müsse das Weißbuch mit den Details der neuen britischen Linie vorliegen, dann werde man eine Bewertung abgeben. Die EU-Seite habe großes Interesse an einer Vereinbarung mit London und stehe „rund um die Uhr für Gespräche zur Verfügung“. Dem Rücktritt von Brexit-Minister Davis können sie im Brüsseler Verhandlungsteam sogar Positives abgewinnen: In den letzten Monaten war deutlich geworden, dass Davis zunehmend das Vertrauen von May verloren hatte, auch deshalb stockten die Verhandlungen mit der EU – Davis und sein EU-Counterpart Michel Barnier sollen seit Anfang des Jahres lediglich vier Stunden persönlich miteinander gesprochen haben.

Kein Zweifel an britischer Handlungsfähigkeit

Auch die Bundesregierung gab sich in dieser Hinsicht gelassen: „Wir haben keinen Zweifel daran, dass die britische Regierungsseite verhandlungsfähig ist“, erklärte das Auswärtige Amt. Es sei zu begrüßen, dass nun präzisere Vorschläge der britischen Seite zum Brexit auf den Tisch gelegt würden. Dann werde man sich genau ansehen, was in dem Weißbuch enthalten sei, und darüber im Kreis der EU-Mitgliedstaaten beraten. EU-Ratspräsident Donald Tusk meinte: „Politiker kommen und gehen, aber es bleiben die Probleme, die sie für ihr Volk geschaffen haben.“

Das „Durcheinander“ wegen des Brexit sei „das größte Problem“ in der Geschichte der Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien. „Es ist“, fügte Tusk hinzu, „immer noch weit von einer Lösung entfernt.“ Doch May hat ihre eigene Lesart: Nach den Rücktritten müsse die EU ihrer Regierung mehr entgegenkommen. Falls Brüssel sich nicht konstruktiver verhalte, drohe am 29. März 2019 ein EU-Ausstieg ohne Abkommen.