Berlin . Der SPD-Vorstand hat die Gründe für das Wahldebakel aufarbeiten lassen. Hauptschuldiger soll demnach Ex-Parteichef Sigmar Gabriel sein.

Die 108 Seiten lange Analyse wurde in der SPD wie eine geheime Kommandosache behandelt. Parteichefin Andrea Nahles ließ die Broschüre mit der Aufarbeitung des jahrelangen Niederganges der Sozialdemokratie am Montagmorgen erst kurz vor Beginn einer Sitzung an die Mitglieder des SPD-Vorstands verteilen. Nahles selbst traf sich mit Journalisten zum Frühstück, um die Ergebnisse in ihrem Sinn zu erklären. Selten zuvor hat eine Partei es zugelassen, eigene Fehler und Schwächen so schonungslos offenzulegen.

Wenige Wochen nach dem Absturz auf historisch schlechte 20,5 Prozent hatte der damalige Parteichef Martin Schulz grünes Licht gegeben, dass Wahlforscher, Werbeprofis, SPD-Manager und Journalisten nachspüren, warum die Volkspartei zu einem Sanierungsfall wurde und was in den Wahlkämpfen alles schieflief. „Es ist ein harter Bericht – für uns alle. Aber das ist auch gut so, denn nur so ändert sich etwas“, sagte Nahles.

Eine zentrale, für die SPD bittere Erkenntnis der Analyse, die allerdings nicht neu ist: 2009, 2013 und 2017 grüßte jeweils das Murmeltier, als es um die Aufstellung des Kanzlerkandidaten ging. 2008 wurde Frank-Walter Steinmeier zum Herausforderer von Angela Merkel – der begleitende Putsch gegen den damaligen SPD-Chef Kurt Beck zerstörte jede Aufbruchstimmung. 2012 sickerte ungeplant durch, dass dieses Mal Peer Steinbrück Kanzlerkandidat wurde – er ging völlig unvorbereitet in den Wahlkampf. Er hatte gewarnt, ein zu früh benannter Kandidat werde „öffentlich platt gemacht wie eine Flunder“.

2017 rechneten die meisten mit einer Kandidatur Sigmar Gabriels, der verkündete dann an allen Gremien vorbei in einem „Stern“-Interview, dass er Martin Schulz den Vortritt lässt.

Nahles will eine Parteizentrale als Kampagnenplattform

Andrea Nahles und Olaf Scholz im Willy-Brandt- Haus.
Andrea Nahles und Olaf Scholz im Willy-Brandt- Haus. © imago/Metodi Popow | M. Popow

In der Studie wird vor allem Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel für das Chaos verantwortlich gemacht: „Das Erstzugriffsrecht wurde von Sigmar Gabriel zweimal missbraucht und damit die gesamte Partei Geisel seiner Launen, Selbstzweifel und taktischen Manöver“, heißt es. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Parteiführung nie den Mut aufbrachte, Gabriel Einhalt zu gebieten. Jedenfalls waren die Schubladen leer, als Schulz mit wenigen Getreuen in den Wahlkampf startete und grandios scheiterte. „Die Wahl 2017 ging nicht 2017 verloren, sondern spätestens 2015“, glauben die Experten.

Mit diesen Erfahrungen im Kopf will Nahles vor der Bundestagswahl 2021 frühzeitig entscheiden, wen die SPD ins Rennen schickt: „Wir wollen die Spitzenkandidatur früher und geordneter klären.“ Gute Chancen rechnet sich Finanzminister Olaf Scholz aus. Er ist in der Partei zwar eher unbeliebt. Sein Kurs, die „schwarze Null“ im Haushalt und das Geld der Steuerzahler zusammenzuhalten, kommt aber auch bei vielen bürgerlichen Wählern gut an.

Nahles will SPD auf realistischen Kurs verpflichten

Nahles’ Image-Werte sind äußerst bescheiden. Beim Parteitag im April in Wiesbaden, wo sie als erste Frau die SPD-Spitze übernahm, erhielt sie nur 66 Prozent Zustimmung. Die frühere Arbeitsministerin jedoch will die zerrissene Partei versöhnen. Streit geht sie nicht aus dem Weg. Kürzlich wurde die Russland-Haltung (mehr Dialog) in der SPD geklärt, als Nächstes steht die Mi­grationspolitik an. Hier will Nahles die Partei auf einen realistischen Kurs verpflichten: Lautes Ja zum Asyl, aber ebenso klare Durchsetzung des Rechtsstaates.

Als Lehre aus den verlorenen Wahlkämpfen will Nahles nun die Parteizen­trale neu organisieren. Das gab sie am Montag bei einer Mitarbeiterversammlung bekannt. Im Willy-Brandt-Haus wisse zu oft die rechte Hand nicht, was die linke mache. Seit Jahren wird das „WBH“, wie der schiffsartige Bau an einer großen Straßenkreuzung in Berlin-Kreuzberg intern genannt wird, als Schlangengrube und Ego-Camp rivalisierender Genossen beschrieben. Parteivorsitzende kamen und gingen, hinterließen frustrierte Abteilungsleiter und Strategen. „Kluge, weitsichtige oder gar strategisch angelegte Kommunikation gab es in der Parteizentrale seit nahezu 20 Jahren nicht mehr“, lautet das vernichtende Fazit der Studie.

Millionenloch in der Parteikasse wird bald gestopft

Die SPD hat Probleme, ihre Projekte mit attraktiven Überschriften zu verkaufen. „Framing“ heißt das Zauberwort, wenn Begriffe und Konzepte strategisch so platziert werden, dass sie unbewusst von Wählern aufgenommen werden. Der legendäre CDU-Generalsekretär Heiner Geißler formulierte es so: „Wer die Begriffe besetzt, besetzt die Köpfe.“ Die AfD versucht das in der Migrationspolitik mit Wörtern wie „Flüchtlingsschwemme“ oder „Asylflut“ permanent.

Die CSU prägte mit der „Obergrenze“ das Wahljahr. In den Koalitionsverhandlungen waren SPD-Leute überrascht, wie penetrant Unionskollegen auf Begriffen bestanden. So hört sich eine „Lebensleistungsrente“ für Geringverdiener mit 45 Beitragsjahren eben besser an als die „Solidarrente“ der SPD.

Künftig soll die Parteizentrale im Dauer-Wahlkampfmodus sein. Der Kampf um die Deutungshoheit findet jede Stunde in den digitalen Kanälen statt. In Österreich bespielen die Parteien ÖVP, FPÖ und SPÖ mit großen Social-Media-Teams rund um die Uhr Facebook, Twitter, WhatsApp oder Insta­gram. Der AfD folgen bei Facebook mehr als 400.000 Menschen.

Für die Digitaloffensive aber ist das Geld knapp. Wegen mieser Wahlergebnisse und hoher Kosten für etliche Sonderparteitage klafft ein Loch von rund sechs Millionen Euro in der SPD-Kasse. Aber das soll rasch gestopft werden. Bereits an diesem Freitag wollen CDU, CSU und SPD im Bundestag eine Erhöhung der staatlichen Zuwendungen für Parteien um rund 25 Millionen Euro beschließen.