Berlin. Die neue Grünen-Chefin Annalena Baerbock über Quoten, Doppelspitze, Jens Spahn und Konsequenzen aus dem Datenskandal bei Facebook.

Sie kommt in heller Lederjacke zum Interview, die Ärmel hochgekrempelt – die ganze Körpersprache im Modus: „Ich pack das jetzt an.“ Mit schnellem Griff angelt sich die 37-Jährige die Wasserflasche (Mehrweg) vom Konferenztisch und gießt sich selbst das Glas voll. Der Mund ist trocken, weil sie gerade ein TV-Statement nach dem anderen abgegeben hat. Deutschland interessiert sich für die neue Grünen-Chefin, Annalena Baerbock.

Frau Baerbock, Sie teilen sich mit Ihrem Grünen-Co-Chef Robert Habeck ein Büro – wo ist er denn?

Annalena Baerbock: Der sitzt draußen im Garten, trinkt Kaffee und gibt, glaub ich, ebenfalls ein Interview.

Wie halten Sie es in einem Doppelbüro mit vertraulichen Gesprächen?

Baerbock: Die gibt es nicht. Aber Scherz beiseite – wir haben in den vergangenen Wochen vielleicht 15 Minuten zusammen an unseren Schreibtischen gesessen. Das liegt daran, dass wir die meiste Zeit unterwegs sind. Aber wir telefonieren sehr viel miteinander.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit dem neuen Shooting-Star der Grünen?

Baerbock: Tipptopp. Es gibt genug Baustellen, die wir beide jetzt als neue Parteivorsitzende beackern wollen. Daher ist genug Arbeit für alle da. Wir treten uns da nicht auf die Füße.

Was ist der größte Unterschied zwischen Ihnen beiden?

Baerbock: Robert geht zum Handball, ich zum Fußball.

Ist Robert Habeck ein Teamplayer oder müssen Sie ihm als ehemalige Fußballspielerin noch die Pässe zu Ihnen beibringen?

Baerbock: Ist ja zum Glück beides Teamsport. So sehen wir auch unseren Job. Wir bündeln unsere Kräfte, um die Partei voranzubringen und die großen Zukunftsfragen anzugehen: Klimaschutz, Kinderarmut, Pflegenotstand. Gerade bei diesen Themen müssen wir richtig Druck machen, da die große Koalition das bisher nicht auf der Pfanne hat.

Jamaika ist gescheitert. Sie sind mit der FDP jetzt in der Opposition. Wie viele Gemeinsamkeiten sind geblieben?

Baerbock: Ehrlich gesagt, hab ich bei den Sondierungen nicht megaviele Gemeinsamkeiten gesehen, weil Herr Lindner oftmals die CSU noch rechts überholte. Jetzt in der Fraktion sieht man aus meiner Sicht zum Glück, dass es auch in der Lindner-FDP wenigstens noch ein paar Liberale im bürgerrechtlichen Sinn gibt. Und mit denen versuchen wir dort zusammenzuarbeiten, wo es inhaltlich passt. Wie auch mit den Linken, um als Opposition gemeinsam Druck aufbauen zu können. Zum Beispiel beim Paragraf 219a, wo es um Information für Schwangerschaftsabbrüche geht.

Welche Note geben Sie der Groko für ihren Start?

Baerbock: Ich bin nicht Schiedsrichterin. Aber mich macht es rasend, dass Teile dieser Groko jeden Tag ‘ne andere Sau durchs Dorf treiben, mit Debatten, die uns gesellschaftlich kein Stück voranbringen, und Fragen wie der schrittweise Kohleausstieg oder der Pflegenotstand bleiben vollkommen außen vor.

Ist es nicht frustrierend, wenn man immer nur Äußerungen von Jens Spahn kommentieren soll – wo man doch eigentlich eigene Akzente setzen will.

Baerbock: Ja, das nervt sehr.

Apropos, fehlt es an Recht und Ordnung in Deutschland, wie der neue Gesundheitsminister sagt?

Baerbock: Es fehlt vor allem an einem Gesundheitsminister, der Bock auf Gesundheitspolitik hat. Es gibt Pflegenotstand und Ärztemangel in ländlichen Regionen. Sein Job ist es, dazu Vorschläge zu machen. Der Vorwurf, es fehle in Deutschland an Recht und Ordnung, ist für mich ein Affront gegen jeden Polizisten, jede Richterin oder Staatsanwältin, die sich jeden Tag um Sicherheit bemühen. Jens Spahn schürt damit Ängste, um eine schicke Schlagzeile zu bekommen. Denn zur Lösung schlägt er ja gar nichts vor.

Wo Sie gerade die Regierung kritisieren. Im Oktober wird in Bayern gewählt – schließen Sie eine Koalition mit der CSU aus?

Baerbock: Ich kämpfe mit unseren bayerischen Freunden für starke Grüne in Bayern, denn man macht ja Politik, um zu gestalten, zu verändern. Darüber hinaus ist es für mich Grundlage einer parlamentarischen Demokratie, dass Parteien jeder Couleur, die mit beiden Beinen auf dem Boden des Grundgesetzes stehen, miteinander Gespräche führen. Ob diese erfolgreich sind, steht auf einem anderen Blatt und das entscheidet ohnehin jeder Landesverband für sich.

Es gab im vergangenen Jahr eine große Sexismus-Debatte unter dem Begriff „#Me too“ , in der Frauen von Übergriffen, Beleidigungen und Machtmissbrauch berichteten. Was hat die Debatte gebracht?

Baerbock: Die Debatte ist noch längst nicht am Ende. Sowohl der Feminismus als auch die #MeToo-Debatte holen gerade erst neuen Schwung. Die Gleichstellung von Frauen und Männern ist noch lange nicht erreicht und Sexismus und sexuelle Gewalt gehören leider immer noch zum Alltag. Jeden Tag kommt eine Frau in Deutschland zu Tode oder wird schwer verletzt durch ihren Partner. Ohne weitere Notiz. Und das Krasse ist, auch die neue Bundesregierung war nicht willens, finanzielle Mittel bereitzustellen, um Frauenhäuser endlich finanziell so auszustatten, dass sie keine Frauen wegen Überfüllung mehr abweisen müssen.

Haben Sie Verständnis für Frauen, die sich unsicher fühlen, weil durch Migration mehr Männer ins Land kommen aus Kulturen, in denen Frauen stärker diskriminiert werden?

Baerbock: Jede Frau kennt das Gefühl, sich mal unsicher zu fühlen. Seit Generationen. Das ist schlimm. Ich kenne das von früher: Nachts alleine auf dem Rückweg aus der Disco. Und auch heute noch manchmal. Das hat wenig mit Migration zu tun. Da geht es um drohende Gewalt von Männern an Frauen. Deswegen ist die Sexismus-Debatte auch so wichtig. Und zugleich müssen wir dabei auch intensiver über patriarchale Sozialisationsmuster bei Migranten sprechen, wenn mehr Menschen zu uns kommen. Frauenrechte gelten weltweit. Sie sind nicht relativierbar. Auch nicht kulturell. Jeder Mann hat sie zu respektieren.

Haben Sie persönlich Sexismus oder sogar Übergriffe erlebt?

Baerbock: Ja, sexuelle Belästigung kennt wohl sicher leider jede Frau in Deutschland.

Wir haben gehört, Sie sehen in der Frauenquote ein Instrument gegen Sexismus …

Baerbock: Es gibt ja unterschiedliche Formen von Sexismus. Aber bei Sexismus geht es immer auch um Macht. Daher ist der Grat zwischen Machtausübung und sexualisierter Macht total schmal. Sexismus gibt es in jedem Berufszweig. Auch deswegen ist die Quote für mich entscheidend. Ein Beispiel: Wenn in einem Raum nur Männer sind, dann fühlt man sich als Frau, wenn ein sexistischer Spruch fällt, ganz anders, als wenn noch mehr Frauen dabei wären. Dann würden über so einen blöden Spruch, der ja Macht demonstrieren soll, schon mal mindestens die Hälfte nicht lachen. Mit einer höheren Frauenquote in Unternehmen werden wir erfolgreicher Sexismus bekämpfen. Aber die Quote sorgt einfach auch für mehr Gleichberechtigung. Wir Grüne haben seit Langem eine 50-Prozent-Quote. Das spiegelt das Geschlechterverhältnis unserer Gesellschaft wider.

87 Millionen Menschen könnten weltweit vom Datenmissbrauch durch Facebook betroffen sein, viele davon in Deutschland. Was halten Sie von Überlegungen von Datenschützern, den Facebook-Konzern zu zerschlagen?

Baerbock: Ich befürchte, dass ist bislang nur die Spitze des Eisbergs. Das Problem ist, dass geltendes deutsches und europäisches Recht von Facebook seit Jahren ignoriert wird und die Bundesregierung das achselzuckend hinnimmt. Den Rechtsbruch darf man aber diesem Konzern auf keinen Fall mehr durchgehen lassen. Deswegen ist Facebook für mich schon längst ein Fall für die Aufsichtsbehörden. Innenminister Seehofer muss endlich tätig werden. Er spricht ja so gerne von Recht und Ordnung. Der Grundrechtsschutz von 30 Millionen deutschen Nutzern muss endlich sichergestellt werden.

Was muss konkret mit Facebook geschehen, wenn der Konzern seine Kunden nicht vor Datenmissbrauch schützt?

Baerbock: Wenn der Konzern nicht in der Lage ist, die Daten seiner Kunden zu schützen und sich weigert, sich an Recht und Gesetz zu halten, dann muss das scharf sanktioniert werden. Letztendlich müsste dem Konzern die Geschäftsgrundlage entzogen und über eine Entflechtung diskutiert werden. Aber wie gesagt, hier hat bisher auch die Bundesregierung versagt. Und das geht gar nicht