Berlin. Die türkische Armee besetzt die Region Afrin. Jetzt warnen Sicherheitsbehörden: Der Konflikt könnte auch in Deutschland eskalieren.

Der Mann baut sich auf vor den verbrannten Möbeln, der Asche und dem Metallzaun. Er schwenkt die türkische Fahne, rot und weiß, mit Sichelmond und Stern. „Das ist unmenschlich“, sagt er laut. „Niemand schützt uns vor diesen feigen Angreifern.“ Hinter ihm treten Frauen mit Kopftuch und Männer, manche mit Kindern an der Hand, durch die Trümmer in ihrer Moschee. Eine Frau weint, hält sich die Hand vor den Mund. Stühle sind verkohlt, Koran-Bücher, Regale, der Kühlschrank. Nur die Cola-Dosen auf dem Fußboden glänzen rot und weiß.

Laut Augenzeugen warfen drei Jugendliche Brandsätze durch die Scheiben der Koca-Sinan-Moschee im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Und nicht nur hier. In Lauffen in Baden-Württemberg zündeten Unbekannte mit Brandsätzen eine Moschee an. Auch das Haus eines türkischen Vereins im nordrhein-westfälischen Meschede wurde mit einem Molotow-Cocktail beworfen. Wenig später schlugen Unbekannte die Fenster einer Moschee in Itzehoe, Schleswig-Holstein, ein. Die Polizei ermittelt, vermutet bei den Anschlägen politische Motive. Mehr geben die Behörden auf Nachfrage bisher nicht an. Doch Bekennerschreiben im Internet lassen einen kurdischen Hintergrund der Taten vermuten.

Zivilisten fliehen vor türkischen Soldaten

Nach einer wochenlangen Militäroffensive besetzten türkische Soldaten gemeinsam mit Milizen der „Freien Syrischen Armee“ am Sonntag Afrin, die Hauptstadt der Kurden im Nordwesten Syriens. Seite an Seite mit der Armee kämpfen auch radikale Islamisten. Laut Berichten kam es zu Plünderungen, kurdische Statuen und Fahnen wurden zerstört. Die Regierung von Recep Tayyip Erdogan in Ankara sieht den Angriff als Anti-Terror-Krieg. Laut Medienberichten fliehen nun jedoch Hunderttausende Zivilisten, Helfer warnen vor einer humanitäre Katastrophe in Syrien. Und in Deutschland wächst die Wut unter den Kurden.

Chaos und Plünderungen in Afrin

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    Seit Wochen warnen Innenminister und Verfassungsschützer verstärkt davor, dass der Konflikt zwischen der Türkei und den Kurden auch in Deutschland neu entfacht. Am Samstag demonstrierten mehrere Tausend Kurden in Hannover gegen Erdogans Militäroffensive. Es blieb friedlich. Aber das war zuletzt nicht immer der Fall.

    „Fight4Afrin“

    Dutzende Angriffe auf türkische Kulturvereine, Moscheen oder Restaurants registrierte die Polizei. Unbekannte warfen Farbbeutel auf Geschäftsstellen von Union und SPD, attackierten Fahrzeuge der Bundeswehr und schmissen Scheiben von Banken ein. Häufig hinterlassen die Täter ihre Botschaft – Parolen der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, die auch in Europa noch immer als Terrorgruppe eingestuft ist. Oder: „Fight4Afrin“. Kämpfe für Afrin.

    Auf Webseiten militanter kurdischer Gruppen finden sich Fotos und Videos der Aktionen. Die „Profiteure des Krieges“ würden zur Rechenschaft gezogen, heißt es. Manche tragen den Kampf in Syrien auch in ihre deutsche Heimat. Auf der von Linksextremisten betriebenen Internetseite „Indymedia“ bekannte sich ein selbsternanntes „Kommando Sema Orkês“ zu einem Farbbeutel-Anschlag auf die türkische Botschaft in Berlin.

    37 Übergriffe auf türkische Einrichtungen

    Die deutschen Polizeibehörden zählten in den ersten Monaten 2018 bereits 37 Angriffe mutmaßlicher prokurdischer Aktivisten auf Moscheen, Kulturvereine oder türkische Restaurants. Im gesamten Jahr 2017 waren es laut Polizei insgesamt 13 dieser Übergriffe. Das teilte eine Sprecherin des Bundesinnenministeriums auf Nachfrage dieser Redaktion mit. Für beide Zeiträume handele es sich um vorläufige Zahlen, die durch Nachmeldungen bei der Polizei noch steigen oder sinken können.

    Wut schlägt um in Flammen. Flammen schlagen wieder um in Wut. Der Mann mit der Türkei-Flagge vor der Berliner Moschee sagt, dass es ihm egal sei, wer das tue. „Das ist einfach nur scheiße.“ Ein junger Mann mischt sich ein, hinter ihm bauen sich Freunde auf. „Die werden alle sterben“, sagt er. Der Mann trägt eine schwarze Mütze, darauf ist die Fahne der Türkei gestickt. Das sei die PKK gewesen, sagt er. „Das ist wegen Afrin.“

    Türkei erobert nordsyrische Stadt Afrin

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      Viele Menschen kommen am vergangenen Freitag zum Mittagsgebet nach Reinickendorf. Bei Minusgraden rollen sie ihre Teppiche auf dem Platz gegenüber von der abgebrannten Moschee auf. An Laternen hängen rote Luftballons, aber auch deutsche und türkische Fahnen haben sie aufgehängt. Einzelne wettern gegen Kurden, viele zeigen sich aber auch zurückhaltend. „Das war ein Schock für uns. Wir müssen nun abwarten, dass die Polizei die Täter findet“, sagt Bekir Arslan, der Jugendvorstand der Moschee. „Ich möchte nicht darüber spekulieren, wer unsere Moschee angezündet hat.“ In einer Presseerklärung warnen Islamverbände vor „Terror und Gewalt“ gegen Muslime und rufen zur Solidarität auf. Von möglichen Zusammenhängen zu Angreifern aus der Kurden-Szene schreiben sie nichts.

      Erst gegen den IS, jetzt gegen die türkische Armee

      Führende Vertreter der Kurden in Deutschland rufen immer wieder zu friedlichen Protesten auf, kritisieren Gewaltaktionen einzelner Gruppen. Aber auch in der Spitze der Verbände wächst die Wut. Ali Ertan Toprak, Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde und CDU-Mitglied, sagt, dass Einheiten der Kurden in Syrien über Jahre gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ gekämpft hätten. Nun warnt er von „ethnischen Säuberungen“ durch die Türkei und fordert Sanktionen gegen den Nato-Staat.

      Deutschland lieferte in der Vergangenheit immer wieder Panzer und andere Waffen an die Erdogan-Regierung, allein in den vergangenen Monaten genehmigte die Bundesregierung Dutzende Rüstungsexporte in Richtung Ankara. Fotos zeigen Panzer des Typs „Leopard 2“ jetzt in den Straßen Afrins.

      „Wir werden tagtäglich bedroht“

      Kurden-Vertreter Toprak sagt auch: „Wir werden tagtäglich bedroht, beleidigt und die nationalistische Stimmung schwappt herüber aus der Türkei hierher.“ Die abgebrannte Moschee in Berlin gehört zum Verband „Ditib“. In den vergangenen Jahren stand „Ditib“ mehrfach in den Schlagzeilen. Politiker von CDU bis Linkspartei sehen den Verband als „verlängerten Arm Erdogans“. Die türkische Religionsbehörde schickt Imame für alle Ditib-Moscheen. Grünen-Politiker Volker Beck warnt vor „nationalistischer Stimmungsmache“. Nach dem Putschversuch in der Türkei sollen einzelne Imame der Gemeinden Erdogan-Gegner in Deutschland sogar ausspioniert haben. Die Bundesanwaltschaft ermittelte. Mittlerweile sind die Verfahren jedoch eingestellt worden.

      Und nicht nur in manchen Moscheen sehen Sicherheitsbehörden eine Gefahr für den Frieden in Deutschland durch radikale Erdogan-Anhänger. In der vergangenen Woche durchsuchten 1000 Polizisten in drei Bundesländer Wohnungen und Räume der Rockergruppe „Osmanen Germania BC“. Sie sicherten Beweismittel, Waffen und Drogen. Tatsächlich ist der Rockerclub laut Innenministerium durch Tötungsdelikte und Körperverletzungen aufgefallen. Und: Laut Behörden in Nordrhein-Westfalen sind die „Osmanen“ türkisch-nationalistisch und teilweise auch rechtsextremistisch. Es gebe Kontakte zwischen führenden Rockern und Vertretern der türkischen Regierungspartei AKP.

      Mit dem Syrien-Krieg bricht der Frieden

      Deutschland – ein Spiegel des Konflikts zwischen Türken und Kurden. Lange Zeit sah dieses Spiegelbild friedlich aus. Fast drei Millionen Menschen in Deutschland kommen aus türkischen Familien, rund 1,2 Millionen sind kurdisch geprägt. Genaue Zahlen sind jedoch schwer zu ermitteln, weil den Kurden ein Staat und eine Staatsangehörigkeit bis heute fehlen. Viele leben seit Generationen hier, sind längst deutsche Staatsbürger.Lange Zeit war es ruhig. Dann brach 2011 der Krieg in Syrien aus. Damit brach auch die Ruhe hier.

      Schon vor einem Jahr warnte Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen vor „Stellvertreterauseinandersetzungen“. Heute zählt der Inlandsgeheimdienst rund 10.000 Rechtsextremisten zur „Ülkücü“-Bewegung in Deutschland, die „Grauen Wölfe“, deren Anhänger sich mehrfach Auseinandersetzungen mit kurdischen Gruppen am Rande von Demonstrationen lieferten. Zur verbotenen kurdischen PKK zählt der Verfassungsschutz rund 14.000 Anhänger, sie könne aber weit mehr Sympathisanten mobilisieren. Während die ältere Generation gemäßigte Töne anschlägt, gelten vor allem einzelne Jugendgruppen auf beiden Seiten als schwer kontrollierbar – selbst durch die eigenen Leute. Das berichten Sicherheitsbehörden aber auch Kurden im Gespräch mit dieser Redaktion. Im Internet, auf Facebook und YouTube, sinke die „Hemmschwelle zur Gewalt“.

      „Erdogan, Terrorist!“

      Die 37 Jahre alte Melek kämpft für die Idee eines freien Kurdistans, seitdem sie 15 ist. Jetzt, während der Militäroffensive der Türkei in Afrin, steht sie wieder auf der Straße, an diesem Märznachmittag gemeinsam mit 200 anderen auf dem Berliner Herrmannplatz. „Merkel finanziert, Erdogan bombardiert!“, rufen sie. Und: „Erdogan, Terrorist!“. Melek ist Vorsitzende im Verein „Nav-Dem“, dem Demokratischen Gesellschaftszentrum für KurdInnen in Berlin. Ihren Nachnamen möchte Melek nicht lesen, zum Schutz ihrer Familie. Sie hat Angst vor Übergriffen türkischer Extremisten.

      Der Verfassungsschutz stuft auch den Verein „Nav-Dem“ als extremistisch ein, sieht ihn als operativen Arm der verbotenen PKK. „Es gibt in Deutschland derzeit verstärk Repression gegen kurdische Einrichtungen.“ So sieht Melek es. Im März gab es mehrere Razzien etwa in Thüringen und Nordrhein-Westfalen gegen kurdische Gruppen.

      „Deutschland macht sich mitschuldig“

      Der Druck auf die kurdische Szene in Deutschland nimmt zu. Und die Kurden richten ihre Wut gegen die deutsche Regierung. Zu viel Geld habe das Regime von Erdogan für den vermeintlichen Einsatz in der Flüchtlingskrise von der EU erhalten, zu viele Waffen und Panzer seien von deutschen Firmen dorthin geliefert worden. „Deutschland macht sich damit für das Massaker mitschuldig“, sagt die Demonstrantin Melek.

      Plötzlich verstummen die Rufe der Kurden auf dem Herrmannplatz. In einer Schweigeminute wollen sie der Toten der Angriffe auf Afrin gedenken. Über ihren Köpfen wehen die Fahnen der YPG-Miliz, die sich in Syrien erst den Terroristen des IS entgegengestellt hat und nun den Panzern der türkischen Armee. Bis vor kurzem waren die Fahnen aufgrund der Nähe zur PKK auf deutschen Straßen von den Behörden verboten worden. Jetzt lassen die Ordnungsämter sie häufiger zu. Melek sagt, das sei ein kleiner Sieg im Kampf um die Freiheit der Kurden. Nicht in Syrien oder der Türkei. Aber zumindest hier in Deutschland.