Uglitsch. Wladimir Putin wird wohl die Präsidentschaftswahl deutlich gewinnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es keine Opposition im Land gibt.

Die 15-jährige Xenia singt mit Bruststimme ein russisches Volkslied. Larissa, ihre Tante und Lehrerin, begleitet sie auf dem Klavier. Das Holzparkett im Klavierzimmer der Musikschule haben die Jahre dunkel gefärbt. An blassen Blümchentapeten hängen alte Stiche von Musikergrößen wie Bach und Tschaikowsky. Nur der Aufkleber von Alexei Nawalny, dem bekanntesten Oppositionspolitiker im Land, auf Larissas Handtasche zeigt, dass die Sowjetzeit Vergangenheit ist.

Die Klavierlehrerin Larissa Cholmowskaja gehört zu den sehr seltenen Oppositionellen in Uglitsch, einem Provinzstädtchen an der oberen Wolga rund 200 Kilometer nördlich von Moskau. Nichte Xenia, erzählt sie, sei Aktivistin in einem durchaus regimetreuen Jugendclub. Xenia lacht. Im Russisch-Unterricht hätten sie gerade einen Aufsatz zu dem Thema geschrieben: Welchen Präsidentschaftskandidaten würdest du wählen? „Zwei Mädchen haben über Xenia Sobtschak geschrieben, ich über Alexei Nawalny.“ Xenia Sobtschak, TV-Moderatorin und Glamour-Girl, gilt als krasse Außenseiterin, der Anti-Korruptions-Aktivist Nawalny wurde erst gar nicht zu den Wahlen zugelassen. Es störte weder Xenia noch ihren Lehrer: „Ich habe ein ‚sehr gut‘ bekommen“, freut sie sich.

Kinder malen Gegenkandidaten – und nicht Putin

Am 18. März wählt Russland seinen Präsidenten. Der neue Kremlchef ist der alte, Wladimir Putins Sieg steht bereits heute so gut wie fest. Der Amtsinhaber verspricht eine Verdoppelung des Bruttoinlandsprodukts und atomgetriebene Raketen. Bei vielen Russen kommt Putins Demonstration der Stärke an. Seit 1999 ist der frühere KGB-Offizier Präsident oder Ministerpräsident – das Land trägt seine Handschrift. Widerspruch: zwecklos. In einem Dorf am Ural hat eine Lehrerin einer 13-Jährigen mit Gefängnis gedroht, weil sie bei einem Malwettbewerb statt Putin den kommunistischen Kandidaten Pawel Grudinin porträtierte.

Nicht überall wird Putin so bejubelt, wie in Moskau bei einer Wahlkampfveranstaltung.
Nicht überall wird Putin so bejubelt, wie in Moskau bei einer Wahlkampfveranstaltung. © Getty Images | Anadolu Agency

Doch an Uglitsch scheint der Wahlkampf vorbeizugehen. Es herrschen 21 Grad minus, die wenigen Passanten auf dem Uspensker Platz eilen als kleine Punkte durch die verschneite Landschaft. Nur über der Jaroslawsker Chaussee hängt ein einsames Plakat des nationalpopulistischen Kandidaten Wladimir Schirinowski. Dabei reden die Uglitscher durchaus über Politik. Im „Familienfriseursalon Andersen“ lackiert Chefin Swetlana Grosnowa der Zahnärztin Tatjana die Fingernägel. „Ich wähle Putin, er ist der mit Abstand vernünftigste Kandidat“, verkündet Tatjana. Swetlana hält es ebenfalls mit Putin. „Ich will nicht, dass das Chaos der 90er- Jahre zurückkehrt. In Uglitsch gab es damals in den Lebensmittelgeschäften nur Meerkohl.“

Der Monatslohn beträgt im Schnitt 100 bis 300 Euro

Swetlana hat in Moskau Weinbau studiert. Sie lernt eifrig Deutsch und informiert sich nicht nur über das Staatsfernsehen, sondern auch über deutsche Nachrichten-Portale. Eine Familie mit drei Kindern benötige in Uglitsch pro Monat 150.000 Rubel (mehr als 2100 Euro), um gut zu leben, sagt sie. Für fast alle sei das aber reines Wunschdenken. Offiziell liegt das Durchschnittseinkommen in der Region Jaroslawl bei 35.000 Rubel (500 Euro). Doch selbst das scheint nicht zu stimmen. Aleksei Fedurjow, ehemaliger Stadtarchitekt und stellvertretender Sekretär des Bezirkskomitees der kommunistischen Partei KPRF, beziffert die durchschnittlichen Monatslöhne hier auf 7000 bis 20.000 Rubel, 100 bis knapp 300 Euro.

Rund 32.000 Menschen leben in Uglitsch. Im Sommer lassen Touristen etwas Geld in dem Städtchen, vor allem Passagiere der Wolga-Dampfer. Die Uhrenfabrik, in der zu Sowjetzeiten mehr als 10.000 Menschen arbeiteten, hat vor zwölf Jahren Bankrott gemacht. Ansonsten gibt es ein paar Kleinbetriebe. Uglitsch ist 1081 Jahre alt, 110 Jahre älter als Moskau. Die Stadt sei „ein Wald aus Kirchtürmen“, schwärmte einst der französische Schriftsteller Alexandre Dumas. Aber heute wirkt der Ort trostlos. Der Schnee kann die Schlaglöcher der Straßen kaum verbergen. Aus der Ruine des nie zu Ende gebauten Tanzpalasts gähnen leere Fensterhöhlen.

„Das Volk schweigt, aber das Volk denkt“

Swetlana hofft, dass sich die Schwachstellen innerhalb des Systems korrigieren lassen. Das Wichtigste sei ihr die Familie. Larissa nickt. „Die Männer zerreißen sich, um Geld zu verdienen, ein Haus zu bauen, den Kredit für eine Wohnung zu bezahlen.“ Überlebenskampf sei für viele Alltag. „Das Volk schweigt, aber das Volk denkt.“

Die staatlichen Meinungsforschungsinstitute sagen eine Mehrheit von 70 Prozent für Putin voraus. Das stimme in etwa mit dem Meinungsbild bei den Kunden in ihrem Friseurgeschäft überein, betont Swetlana. In Uglitsch redet man gern und viel. Aber es kommt nicht zu hitzigen Diskussionen. Man bespritzt die politischen Gegner nicht mit Chemikalien, wie dies zuweilen in Großstädten üblich ist. Uglitsch steht für politische Toleranz und Offenheit. In Tausenden anderen Kleinstädten des riesigen Landes ist das ähnlich. Doch die Skandale und politischen Repressalien in Moskau und den anderen Metropolen machen die dicken Schlagzeilen.

Keiner will eine blutige Revolution

Die Parkettdielen im Empfangsbüro der Putin nahestehenden Partei Einiges Russland sehen noch sehr sowjetisch aus, darüber herrscht spartanische Sachlichkeit: eine russische Fahne, zwei Landkarten, weiße Bären auf einem Kalender und auf dem Wappen der Partei. An der blank geputzten Platte des Versammlungstischs sitzt Michail Woronow, der Vorsitzende der Bezirksduma von Uglitsch.

Woronow hat gemeinsam mit Larissa Cholmowskaja, der Oppositionellen, die Musikschule absolviert. Und er erzählt, wie Larissa nach einer Protestaktion in Jaroslawl mit anderen Nawalny-Aktivisten festgenommen wurde, sich auf der Polizeistation an ein Klavier setzte und spielte. „Die Leute hier haben eine sanftere Einstellung zum politischen Kampf“, erklärt Woronow. Larissa selbst sagt, sie habe durch das Klavierspiel die Stimmung auf der Wache entspannen wollen. „Keiner in Russland möchte eine blutige Revolution.“