Berlin. SPD-Vize Malu Dreyer fordert nach der Sondierung weitere Zugeständnisse der Union. Die Bürgerversicherung soll wieder Thema werden.

Malu Dreyer schüttelt noch immer den Kopf über die 24 Stunden Dauersondierung zwischen Union und SPD. „Ich weiß nicht, ob solche Marathonsitzungen die ganze Nacht durch wirklich notwendig sind“, sagt die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin auf der Rückreise in ihre Heimat. „Das ist eine Berliner Angewohnheit, die gar nicht mehr in die heutige Zeit passt.“ Dreyer, die auch stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende ist, stört sich nicht nur an der Form der Sondierungen, sondern auch an manchem Ergebnis.

Es ist besser, falsch zu regieren, als nicht zu regieren – ist das der Leitsatz, unter dem die SPD jetzt wieder mit der Union zusammenfindet?

Malu Dreyer: Nein, ganz und gar nicht. Wir klopfen auch keine Sprüche wie Herr Lindner von der FDP. Wir haben ernsthafte Gespräche mit der Union geführt und eine gute Grundlage für Koalitionsverhandlungen erarbeitet.

Sie haben die Festlegung der SPD, in die Opposition zu gehen, im Herbst als „unumstößlich“ bezeichnet – und sich später für die Tolerierung einer Minderheitsregierung der Union ausgesprochen. Wann und warum haben Sie Ihre Meinung geändert?

Ich bin immer noch zu hundert Prozent der Überzeugung, dass es richtig war, nach der Bundestagswahl die große Koalition auszuschlagen. Kein Mensch konnte damit rechnen, dass Jamaika wochenlang verhandelt und uns dann einen Scherbenhaufen hinterlässt. Was Union, FDP und Grüne veranstaltet haben, war nicht seriös. Mit der neuen Lage musste die SPD sich befassen.

Fürs Protokoll: Sie empfehlen dem Parteitag nun auch persönlich, einer weiteren großen Koalition zuzustimmen?

Ich sage nach wie vor, dass die große Koalition nicht meine Wunschkonstellation ist. Wenn sie jetzt zustande kommt, wird sie ein Zweckbündnis. Aber auch mit einem Zweckbündnis kann man dem Land und den Menschen dienen. Und die Union zeigt keinerlei Bereitschaft, eine Minderheitsregierung zu bilden. Daher empfehle ich den Delegierten des SPD-Parteitags, für Koalitionsverhandlungen mit der Union zu stimmen. Dabei muss ganz klar sein, dass wir nicht einfach weitermachen, sondern als SPD erkennbar sein müssen.

Schon der letzte Koalitionsvertrag war stark sozialdemokratisch geprägt. Was unterscheidet eine neue große Koalition denn von der alten?

Eine große Koalition hat nicht die Ausstrahlung eines neuen Bündnisses. Wenn wir jetzt Koalitionsverhandlungen aufnehmen, geht es um ein Zweckbündnis. Aber auch ein Zweckbündnis aus Union und SPD kann ein Land sehr gut regieren. Es geht um gute sozialdemokratische Inhalte, die mehr Teilhabe und mehr Gerechtigkeit bringen in Deutschland. Trotzdem: Das Regieren allein bringt der SPD keinen Fortschritt. Wir müssen uns als Partei weiter erneuern.

Keine Bürgerversicherung, keine höheren Steuern für Reiche, keine wirkliche Lockerung beim Familiennachzug für Flüchtlinge – die SPD hat in den Verhandlungen klar den Kürzeren gezogen ...

Na ja, das ist Ihr Resümee. Meines ist es ganz und gar nicht. Die SPD hat in den Sondierungsgesprächen vieles erreicht für mehr soziale Gerechtigkeit: unter anderem die gebührenfreie Kindertagesstätte für ganz Deutschland, eine Stärkung der dualen Ausbildung, die Grundrente, eine gesetzliche Fixierung des Rentenniveaus, die Parität in der Finanzierung der Krankenversicherung. Aber natürlich haben wir als SPD noch weitere Anliegen für ein sozial gerechtes und wirtschaftlich starkes Deutschland.

Woran stören Sie sich im Sondierungspapier?

An den Vereinbarungen zur Steuerpolitik. Zu mehr Gerechtigkeit gehört ein höherer Spitzensteuersatz. Leider war das mit der Union nicht zu machen. Immerhin haben wir eine Entlastung der kleinen und mittleren Einkommen erreicht. In den Sondierungsgesprächen ist sehr deutlich geworden, wie unterschiedlich Union und SPD in Bezug auf soziale Gerechtigkeit sind.

Finden Sie sich mit unbefriedigenden Beschlüssen ab – oder wollen Sie das Papier in den Koalitionsverhandlungen nachbessern?

Sondierungen und Koalitionsverhandlungen sind unterschiedliche Paar Schuhe. Wir werden versuchen, in den Koalitionsverhandlungen noch Erfolge zu erzielen. Ich denke da vor allem an die Arbeitsmarktpolitik. Die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung von Beschäftigungsverhältnissen ist für viele Menschen in Deutschland von enormer Bedeutung. Auch über die Leiharbeit werden wir in den Koalitionsverhandlungen noch intensiv sprechen müssen.

Die SPD ist im Wahlkampf gegen eine Zweiklassenmedizin ins Feld gezogen. Nehmen Sie einen neuen Anlauf, um Kassenpatienten besserzustellen?

Wir haben erreicht, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer wieder zu gleichen Teilen an der Finanzierung der Krankenversicherung beteiligt werden. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber auch in der Gesundheitspolitik gilt, dass Sondierungen nicht gleich Koalitionsverhandlungen sind. Wir werden auch über die Bürgerversicherung noch einmal sprechen müssen. Ich hoffe, dass wir uns diesem Modell noch ein Stück nähern.

Bei der Zuwanderung hat sich die CSU auf ganzer Linie durchgesetzt – selbst zentrale Asylzentren soll es geben. Lässt die SPD das zu?

Manche Vereinbarungen zur Zuwanderung sind für die SPD ganz schwierig. Aber wir haben durchgesetzt, dass Familiennachzug bei Flüchtlingen mit geringerem Schutzstatus möglich wird. Zug um Zug können Familien nach Deutschland kommen. Ich war in den Sondierungen sehr verwundert, wie CDU und CSU nach wie vor miteinander umgehen. Es scheint, als seien das keine Schwesterparteien, sondern konkurrierende Parteien.

Was entgegnen Sie jenen Parteifreunden, die in einer Neuauflage der großen Koalition eine Existenzgefahr für die SPD sehen?

Das wird sehr stark von uns selbst abhängen. Die SPD hat nach der letzten Bundestagswahl einen entscheidenden Fehler gemacht. Sie hat ihre ganze Kraft in die Regierungsbeteiligung gesetzt und dabei versäumt, sich weiterzuentwickeln. Die SPD muss sich erneuern – selbst wenn sie jetzt wieder in eine Regierung geht. Der Parteivorsitzende, wir Stellvertreter und der Generalsekretär werden dafür sorgen, dass dies auch geschieht.

Wird aus Martin Schulz ein guter Vizekanzler?

Wir reden heute nicht über die Besetzung von Posten. Es geht darum, die Partei davon zu überzeugen, dass wir eine gute Grundlage geschaffen haben, um Koalitionsverhandlungen mit der Union aufzunehmen.