Moskau. Der Kreml hat das Kandidatenfeld für die russische Präsidentschaftswahl umgekrempelt. Putins Gegnerin liegt nur bei einem Prozent.

„Wir haben internationale Verträge gebrochen, im Grunde sind wir über unsere kleinen Nachbarn hergefallen“, ereifert sich Xenia Sobtschak. „Die Ukraine hat auf ihre Atomwaffen verzichtet, im Vertrauen auf die Großmacht, für die wir uns halten“, fügt sie hinzu. „Warum erzählen Sie solche Räuberpistolen“, ruft Anatoli Kusitschew, Moderator der staatlichen Talkshow „Die Zeit wird es zeigen“, dazwischen, „in der Ukraine hat es nie Atomwaffen gegeben!“ Eine glatte Lüge. Aber Xenia übertönt ihn: „Darf ich ausreden? Haben wir 1996 einen Vertrag mit der Ukraine unterschrieben?“

Xenia Sobtschak, 36 Jahre alt, selbst Moderatorin und jetzt liberale Präsidentschaftskandidatin bei den Wahlen am 18. März , tourt seit Wochen durch die politischen Shows der russischen Staatssender. Mal attackieren die Gastgeber sie mit Fastnachtströte und Falschaussagen, mal versuchen sie, Sobtschak niederzuschreien – vergeblich. Sie verschafft sich immer wieder Gehör, auch mit der äußerst unpopulären These, die Krim gehöre völkerrechtlich zur Ukraine. Sobtschak ist die erste Oppositionspolitikerin seit Jahrzehnten, die sich ausführlich im Staatsfernsehen äußern darf, der erste Star des russischen Präsidentschaftswahlkampfes – außer Amtsinhaber Wladimir Putin.

Ziel: 70 Prozent für Putin bei 70 Prozent Wahlbeteiligung

Die russische Wirtschaftszeitung „Wedomosti“ hat Xenia Sobtschak schon als zentrale Unperson dieses Wahlkampfes identifiziert: Sie solle in den Diskussionsrunden der staatlichen Kanäle von der Putin-treuen Mehrheit der Moderatoren und Studiogäste rhetorisch zerfetzt und ausgelacht werden. „Die Show ,Wahlkampf‘ braucht einen echten Demokraten, der der russischen Gesellschaft und dem Ausland anschaulich zeigt, wie zutiefst unpopulär bei uns Liberalismus und Demokratie sind.“

Niemand in Russland bezweifelt, dass Wladimir Putin die Wahlen im März gewinnen wird. Aber kremlnahe Quellen verlautbaren, die Staatsmacht strebe ein Vertrauensvotum des Volkes an: 70 Prozent Stimmen für Putin bei 70 Prozent Wahlbeteiligung.

Bei den Wahlen 2016 ging nur jeder Zweite ins Wahllokal

Alexej Nawalny, Putins aggressivster Widersacher, darf nicht kandidieren. Damit die Langeweile sich in Grenzen hält und die Beteiligung nicht wie bei den Duma-Wahlen 2016 unter 50 Prozent rutscht, hat der Kreml das altbekannte Teilnehmerfeld umgekrempelt: Dauerkandidaten wie Sergej Mironow, Chef der Duma-Partei Gerechtes Russland, und Gennadi Sjuganow, der Führer der Kommunisten, treten dieses Jahr nicht an.

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    Statt Sjuganow startet Pawel Grudinin, patriotischer Blogger und Direktor der Erdbeer-Sowchose „Lenin“ bei Moskau. Wie Sobtschak darf auch er im Staatsfernsehen auftreten, auch er findet dort kritische Worte vor allem für die Oligarchen in Putins Umgebung. Nun diskutieren die Experten, ob Sobtschak und Grudinin die liberalen und linken Wähler auf Trab bringen sollen. Oder ob gar der Kreml, wo inzwischen Sergej Kirijenko, ein vergleichsweise liberaler Technokrat, für Innenpolitik zuständig ist, mehr Pluralismus wagen möchte.

    Ein Gegenkandidat stieg kurz nach der Wahl wieder aus der Politik aus

    Und ob ein Generationswechsel bevorsteht. Schon wird im liberalen Lager zunehmend Bewunderung für die Nerven und Schlagfertigkeit der Einzelkämpferin Sobtschak bei ihren Fernsehauftritten laut: „Niemand hat so argumentiert, offen und mutig vor einem großen Publikum gesprochen wie sie“, bloggt der Karikaturist Andrej Bilscho. „Und sie tritt vor Menschen auf, die so etwas noch nie gehört haben. Steter Tropfen höhlt den Stein.“

    Skeptischere Beobachter verweisen darauf, dass der Kreml schon bei den Präsidentschaftswahlen 2012 den demokratisch gesonnenen Milliardär Michail Prochonow als Gegenkandidat starten ließ. Er gewann fast acht Prozent, stieg dann aber wieder aus der Politik aus – offenbar auf Druck von oben. „Drei Monate darf jemand im Fernsehen richtige Dinge sagen, aber hinterher gehen die üblichen Repressalien weiter“, erklärt der Oppositionspolitiker Sergej Dawidis. „Nawalny, dem es auch ohne Fernsehen gelungen ist, eine reale politische Bewegung aufzubauen, wird durch Sobtschak ersetzt, die Politik nur imitiert.“

    Xenia Sobtschak tourt durch TV-Unterhaltungssendungen

    Und in Russland herrschen Zweifel, ob das Fernsehpublikum Xenia Sobtschak, die laut jüngsten Meinungsumfragen bei den Wahlen etwa ein Prozent der Stimmen bekommen würde, ernst nimmt. Die Tochter von Anatoli Sobtschak, dem verstorbenen Petersburger Bürgermeister, stieg unter dessen altem Gefolgsmann Wladimir Putin zum führenden It-Girl der Moskauer High Society auf. Die Blondine mit den Botox-artig gepolsterten Lippen moderierte acht Jahre die schmuddelige Realityshow „Haus 2“, kullerte 2008 in der Filmkomödie „Hitler kaputt“ als Eva Braun halbnackt umher und verkündete noch im Oktober der Zeitschrift „Glamour“, sie als Präsidentin, das wäre „ein Witz, ein Art-Projekt auf höchstem Niveau.“

    Xenia Sobtschak bestreitet, dass der Kreml sie für seine Zwecke gebraucht. „Die Staatsmacht denkt, ich mache für sie den Sparringspartner“, sagte sie Radio Echo Moskwy. „Tatsächlich ist die Staatsmacht für mich ein sehr angenehmer Partner, der mir ermöglicht, überall über seine so offensichtlichen Mängel zu reden.“

    Nebenher hält Xenia Sobtschak auch dem Showgeschäft die Treue. Kurz vor Weihnachten startete Muz-TV die Show „Neue Fabrik der Sterne“, ein Format wie „Deutschland sucht den Superstar“. Mit von der Partie war auch Xenia, die im engen schwarzen Kostüm, mit winzigem Hütchen und leicht verschleiert, die Karikatur eines Chansons sang. Refrain: „Da kämpft der Arsch mit den Brauen, um in Instagram auf alle von oben herabzuschauen. Ich aber bin unpopulär.“ Das Problem der demokratischen Opposition ist, dass ihre neue Galionsfigur sich selbst nicht ernst nimmt.